Vom schönen Schäfermädchen.
Mündlich.
Zu alten Zeiten lag Hannover nur auf dem östlichen Ufer der Leine;
auf dem westlichen, wo jetzt die Neustadt ist, war nichts als Anger und
Wiesen. Nun trug sich's zu, daß einmal ein junger und reicher gnädiger
Herr aus Hannover über den Anger ritt und daselbst eine Schäferin
erblickte, die war schöner als alle anderen Mädchen auf der
Welt, und ihr langes und feines Haar war wie Gold und ringelte sich von
selbst. Dem jungen Herrn lachte das Herz, als er sie sah; er stieg ab
und setzte sich zu ihr ins Gras. Da sang sie ihm so süße Lieder,
daß ihm ganz wundersam zu Muthe wurde; und sie gewannen sich sehr
lieb und wollten einander heiraten. Am andern Tage kam er wieder, und
sie war noch schöner und sang noch süßere Weisen; er aber
war traurig und sprach zu ihr: "Mein Vater hat gesagt, du sollst
nie meine Frau werden; doch ich bleibe dir treu und laße nicht von
dir!" und er schwur es ihr, wie er's gestern geschworen hatte. Am
dritten Tage kam er nicht wieder, und als sie abends einen Fischer fragte,
warum wohl die Glocken so lange geläutet hätten, bekam sie zur
Antwort: "Der junge gnädige Herr hat Hochzeit gehalten mit einem
jungen gnädigen Fräulein." Da sprang ihr das Herz entzwei,
und sie wurde blaß wie der Tod. Am andern Morgen trieb sie wieder
die Schafe aus; weil sie aber so betrübt war, mochten auch die Thierlein
nicht eßen. Und sie sang so traurige Weisen und sang immer leiser
und leiser und sprang vom hohen Ufer in die Leine. Sie hat aber keine
Ruhe, jede Nacht taucht sie hervor, Fischer, die alsdann angeln, haben
sie oft gesehen; ihr langes Haar fließt ihr bis auf die Fersen,
und stets singt sie ihre traurigen Weisen. So wartet sie auf den jungen
gnädigen Herrn, und nicht eher wird sie Ruhe finden, als bis sich
ein reiner Jüngling aus Mitleid zu ihr ins Waßer stürzt.
Quelle: Märchen und Sagen aus Hannover,
Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr. 55, S. 166.