Schlangenkönigin.
Mündlich in Ribbesbüttel.
Vor langer Zeit hausten in Deutschland neben anderen wilden Thieren auch viele Schlangen. Über alle Schlangen aber und alle Thiere herrschte Schlangenkönigin; denn mitten in ihrer goldenen Krone war ein herrlicher Edelstein, welcher blitzte wie ein Sonnenstrahl, und welcher die Kraft besaß, alle Mächte der Natur seinem Besitzer unterthänig zu machen. Ihr Heereslager war eine große Grube, welche sich im Schatten einer Eiche befand, deren Stamm zehn Männer nicht umklammern konnten, und deren Äste so dick wie Bäume waren. Da ruhte sie mit ihrem zischenden Hofstaat.
Schon viele Ritter hatten der Schlangenkönigin die Krone vom Haupte zu reißen versucht, vornehmlich des Steines willen, mit dessen Hülfe sie große Thaten vollbringen wollten; aber alle waren von den wüthenden Schlangen zerfleischt und verzehrt. Nun lebte damals ein junger Königssohn, das war ein kühner Held; ungeschreckt durch das klägliche Ende der übrigen, wollte auch er sein Leben dran wagen, um den Stein zu gewinnen, und ritt in der heiligen Johannisnacht wohlgemuth in den gefahrvollen Strauß.
An den Ästen hieng die Nacht; Eulen und Wölfe heulten durch den Wald; Glühwürmer sprühten umher, und über alle Bäume schoß der Stein seine Strahlen. Bald war der Held bei der Grube, ritt dreimal um sie herum, während er inbrünstig betete, spornte sein edles Thier, sprengte hinüber und trennte während des ungeheuern Satzes mit dem Schwerte die Krone vom Haupt der Schlangenkönigin. Zischend fuhr sie aus dem Schlafe empor; zischend ringelten sich alle Schlangen in die Höhe, strebten wie fliegende Pfeile hinter dem Reiter her, und in wenig Minuten hatte ihn ein großes Thier eingeholt und saß auf seinem Nacken. Er aber schleuderte den Mantel sammt dem Ungeheuer zu Boden und rettete sich glücklich in seine nahe Burg.
Am andern Morgen war von dem Mantel nur noch ein Häuflein, das
wie Häckerling aussah; das Reich der Schlangenkönigin aber war
zu Ende, und der Königssohn wurde durch die Kraft des Steins berühmt
durch alle Lande.
Quelle: Märchen und Sagen aus Hannover,
Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr. 58, S. 169 - 170.