Märchen und Sagen
von
Carl und Theodor Colshorn

mit Titelbild nach Orginalzeichnung
von
Ludwig Richter,
rylographiert
von August Gaber in Dresden.

Hannover 1854

Märchenmütterchen, Ludwig Richter


(Märchenmütterchen, Ludwig Richter)

Jacob und Wilhelm Grimm
in
herzlicher Verehrung

Die kleine Auguste war ein gar herziges Mägdlein von sieben oder acht Jahren; sie blühte wie eine Lilie, war rein wie eine Taube und mild wie eine Traube. Deshalb war sie die Freude und Wonne ihrer Eltern, und alle, die sie kannten, liebten sie.

»Komm, Kleine,« sagte eines Tags der Papa zu ihr, »setz dein Hütchen auf, binde dein rothes Tuch um und zieh deine Handschuhe an; wir wollen ein wenig ins Freie.« Da klatschte Auguste vor Freuden in ihre Händchen, und im Nu stand sie da, wie aus der Beilade genommen. Nun küssten und drückten sie die Mama und wanderten fort.

Als sie eine Weile gegangen waren und sich ergötzt hatten an den zwitschernden Vöglein, den flatternden Schmetterlingen und den hüpfenden Lämmlein, kamen sie auf eine Wiese, auf welcher tausend und abertausend lustige Blumen wuchsen. »Darf ich die pflücken?« fragte Auguste, und der Papa nickte mit dem Kopfe und winkte mit den Augen. Da war die Freude erst recht groß!

Während aber die Kleine wie ein Schmetterling von Blume zu Blume eilte, nahm der Papa etwas Weißes aus der Tasche und legte es ins Gras, das er ein wenig zur Seite bog. Und als Auguste ein schmuckes Sträußchen gepflückt hatte, kam sie heran gehüpft und sagte: »Papa, darf ich nun Hasennester suchen?« Da nickte der Papa wieder mit dem Kopfe und winkte wieder mit den Augen; und sie suchte und suchte.

»Ei, was ist das!« rief sie plötzlich aus, »was wird darin sein?« Rasch nahm sie das Papier hinweg und jubelte und jauchzte hoch auf. »O, Papa, was hat mir Häschen heute gebracht! Grimm's Märchen, in blauen Sammt gebunden, mit goldnem Schnitt und goldnem Titel!«

Und sie nahm das Buch mit nach Haus, ergötzte sich an seinen köstlichen Märchen und hielt es lieb und werth.

Jetzt ist Auguste groß geworden und selber eine Mama; aber das Buch ist ihr lieb und werth wie damals und wird ihr lieb und werth sein bis zu ihrem Tode.

Quelle: Märchen und Sagen aus Hannover, Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, S. I - VIII