Die weiße Jungfrau.
Mündlich in Hameln.
Vor mehreren hundert Jahren lebte auf dem Bürener Berge ein Raubritter.
Seine Frau war todt und hatte ihm eine reizende Tochter hinterlaßen.
Als der Ritter eines Tages von einer Streiferei zurückkehrte, wurde
er schwer krank und ließ einen Mönch kommen. In seinem Todeskampfe
fielen ihm alle seine Sünden wieder ein, und er fragte den Mönch,
wie er seine Seele aus dem Fegefeuer retten könne. Dieser antwortete
ihm: "Wenn ihr alle eure Schätze auf einen Esel laden laßt,
diesen den Berg hinunter jagt, wo er im Sumpfe stecken bleibt, ein Kloster
erbauen laßt und in dasselbe eure Tochter thut; so wird eure Seele
aus dem Fegefeuer errettet werden." Der Ritter ließ seine Tochter
kommen und sprach: "Mein Kind, lade alle meine Schätze auf einen
Esel, jage diesen den Berg hinunter, und wo er stecken bleibt, da laß
ein Kloster bauen, und dann - nimm - den - Schleier." Als er das
gesagt hatte, starb er. Die Tochter aber dachte: "Wenn ich nun einen
Theil von den Schätzen behalte, um davon, wenn ich vielleicht nicht
mehr im Kloster sein mag, ein sorgenfreies Leben führen zu können;
wer wird das merken?" Wie gedacht, so gethan. Sie nahm nur zwei Drittel
der Schätze, packte sie auf einen Esel, jagte diesen den Berg hinunter,
und er blieb dort im Sumpfe stecken, wo jetzt die Münsterkirche steht;
ein Drittel vergrub sie. Nun wurde gebaut; nach kaum einem Jahre stand
das Kloster da, und das Fräulein nahm den Schleier. Aber nach vier
Wochen wurde sie krank. Als sie merkte, daß ihr Ende herannahe,
ließ sie den Mönch kommen, der ihrem Vater Absolution versprochen
hatte, und sagte: "Nur zwei Drittel der Schätze habe ich auf
den Esel gepackt; ein - Drittel - habe - ich - vergraben - in - -."
Sie konnte nicht mehr vollenden; sie starb. Nun muß sie umwandeln
in einem weißen Kleide und mit einem Schlüßelbund an
dem Daumen und die Schätze bewachen, bis ein ganz unschuldiger Jüngling
kommt, der nie etwas Böses gedacht noch gethan hat; dem wird sie
die Schätze zeigen, und wenn er sie ausgegraben und die Münsterkirche,
die jetzt verfallen ist, neu aufgebauet hat, wird ihr Geist Ruhe haben.
Quelle: Märchen
und Sagen aus Hannover, Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr.
11, S. 41 - 42.