Die Totentäler
Schaut man von der Höhe der Weißenburg bei Zscheiplitz über das Tal der Unstrut auf die gegenüberliegenden Höhen, so bleibt der Blick an einer in die Unstrut auslaufenden Felsschlucht bei Balgstädt hängen. Das ist das Tal der Hassel, eines Baches, welcher nach anhaltender Trockenheit ganz von Wasser entblößt ist, der aber zum reißenden Strome werden kann, wenn geschmolzenes Schneewasser oder starke Gewittergüsse sich in das Bachbett ergießen.
Nach einer knappen Wegstunde in das Tal gelangt man an die einsamste Stelle desselben: die Totentäler.
Die Sage erzählt:
Als im Jahre 933, nach 9jährigem Waffenstillstand, der fällige Tribut durch König Heinrich I. verwehrt wurde, fielen die Ungarn abermals in sächsisch-thüringische Gebiete ein. Klug hatte der König durch wirksame Verteidigungsmaßnahmen, sie betrafen vor allem die Anlage und den Ausbau von Befestigungen und die Schaffung eines kampftüchtigen Reiterheeres, sowie durch den Bau und Ausbau von Burgen und die Anlage von Vorräten diese Jahre genutzt. Er brauchte deshalb den gefährlichsten äußeren Feind nicht mehr zu fürchten. Und während sich das Hauptheer der Ungarn anschickte, das feste Merseburg zu berennen, trennte sich eine bedeutende Gruppe, um einen Streifzug in das Herz Thüringens zu tun, um auch diese Gegend mit Raub, Mord und Brand heimzusuchen.
So drang nach Durchreiten bei Freyburg ein kleiner Haufen derselben in das Tal der Hassel. Und gerade dieses wildverwachsene Tal war es, welches viele Bewohner der umliegenden Dörfer zum Versteck gewählt hatten, nicht erwägend, daß die Feinde sich auch hierher verirren könnten.
Mehr als eine halbe Stunde aufwärts, wo das Tal am wildesten und das Gestrüpp am dichtesten war, hatten sie ihren Lagerplatz aufgeschlagen und sich mit Zweigen und Laub notdürftig schützende Unterkünfte errichtet.
Während die rüstigen Männer und Jünglinge das Lager verlassen hatten, um Nahrung zu beschaffen und um die Gegend zu erkunden, waren nur die Greise, die Frauen und die Kinder hier zurückgeblieben. Zitternd vor Angst und jammernd vor dem Ungewissen erwarteten alle die Rückkehr der Männer. Blutrot hatte sich mehr und mehr der Himmel gefärbt und zeigte damit den Weg an, den die Feinde nahmen. Da öffnete sich das Gebüsch und in den Kreis der Wartenden stürzten einige Männer mit der schrecklichen Kunde, daß sich berittene Feinde im trockenen Bachbett ihrer Zufluchtstätte nähern würden.
Angst wurde laut, und die Kinder schrien auf. Man wußte auch nicht, welchen Weg man einschlagen sollte, um sich in Sicherheit zu bringen. Und im gleichen Augenblick stürzten auch schon die Ungarn mit wildem Geschrei auf ihre Opfer. Kaum einer entging dem entsetzlichen Gemetzel. Nach dieser furchtbaren Bluttat stiegen die Reiter von ihren kleinen Pferden, eigneten sich die wenigen Habseligkeiten der Gemordeten an und übernahmen sogleich den Zufluchtsort als Lagerplatz, um am nächsten Tage weiterreiten zu können.
In der heraufziehenden Nacht braute sich über dem Tal ein furchtbares Unwetter zusammen, so daß die arglosen Feinde nicht bemerken konnten, wie sich die Männer und Jünglinge, die unterwegs gewesen waren, aber inzwischen von der Untat erfahren hatten, sammelten, um Vergeltung für den blutigen Überfall zu üben.
Im Dunkel der Nacht wurden die Wachen überwältigt und die Mehrzahl der Ungarn getötet. Die wenigen, die zu fliehen vermochten, wurden jedoch durch die wilden Wassermassen, die sich inzwischen von den Hängen zu Tale wälzten, mit fortgerissen und mußten jämmerlich ertrinken.
Als dann der junge Tag heraufzog und die Strahlen der Sonne den Ort beleuchteten,
war der Anblick der vielen Gemordeten und Verstümmelten so furchtbar,
daß man fortan dieses Tal "die Totentäler" nannte.
Quelle: Sagen und Legenden aus Nebra (Unstrut),
Gesammelt und neu erzählt von Rudolf Tomaszewski, Nebra 1987