Der Gürtel der Jungfrau
Über Kreuzburg im Werratale, Mihla gegenüber, wo der Herren von Harstall uraltes Geschlecht noch blüht, lag ein herrliches Kloster, das hieß Münsterkirchen. Es war reich begabt und reich geschmückt, hatte hohe Kuppeln und Türme und ein prachtvolles Geläute, das weithin talab und -auf vernommen ward. Aber die Kriege, welche Thüringen verheerten, haben das Kloster Münsterkirchen zu einer Wüstung gemacht, und die Rede geht, daß von den Steinen seiner Gebäude fast der ganze Flecken Mihla gebaut worden sein soll. Zuletzt war nur noch ein niederer grüner Hügel übrig, und man nannte die Stätte, welche der Strom im großen Bogen umfloß und öfters überflutete, nur den Sand. Aber an hohen Kirchentagen, und wenn fromme Waller ins Tal abwärts zum Gehülfenberge zogen, da hörte man tief im Schöße der Erde die große Glocke von Münsterkirchen läuten. Diese Glocke hatte denselben Namen wie ihre berühmte größte Schwester in Erfurt: Maria gloriosa. Da geschah es, daß ein junges armes Mädchen auf dem Anger am Sand die Herde hütete und einschlief unter dem Erlengebüsch am Werraufer, und da träumte ihr, sie sähe zwei wildaussehende Männer auf dem nahen Hügel miteinander kämpfen, und dazu hörte sie vernehmlich die versunkene Glocke läuten. Da sie nun erwachte, so sähe sie zwei junge Stiere heftig miteinander streiten, die stampften und wühlten mit ihren Hufen die Erde auf, daß die Butzen nur so darum flogen, und die Hirtin eilte hin, die kämpfenden Tiere auseinanderzujagen, und siehe, da ragte dort, wo die Stiere den Boden aufgewühlt hatten, der Henkel der Glocke aus dem Boden. Freudig erschrocken löste rasch die Jungfrau ihren Gürtel ab, band ein Ende an die Glocke und das andere an einen nahen Strauch, jagte die Stiere vom Hügel und eilte nach Mihla hinüber, ihren Fund zu künden. Da zog die ganze Gemeinde heraus und erhob feierlich die schöne große Glocke von Münsterkirchen und führte sie in ihren Ort. Es ist die größte von Mihlas Glocken. Der Jungfrau Gürtel übte allein die magische haltende Kraft, sonst wäre die Glocke wieder in die Tiefe hinabgesunken.
Zu Berka, zwischen Kreuzburg und Eisenach, hängt im Kirchturm auch
eine schöne große Glocke, die haben auf einem überm Ort
liegenden Berge spielende Kinder gefunden, man zeigt noch die Stelle,
und niemand dort zweifelt an der Wahrheit dieser Sage. Sie hat auch eine
Inschrift, aber, sagte der Pfarrer, es waren schon viele Gelehrte da und
haben die Schrift nicht lesen können. Das kommt daher, daß
viele Gelehrte wunders viel lernen und können, nur nicht Deutsch,
denn die Schrift ist mir deutschen Buchstaben gegossen und ganz gut zu
lesen.
Quelle: Ludwig Bechstein,
Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853