Die Auswanderung der Heiligen
Zwischen Sondershausen und Mühlhausen in Thüringen lag das
Zisterzienserkloster Volkenrode, früher Folcodesrode geheißen.
Darin lebte ein frommer Abt, der hatte einen Traum von drei Jungfrauen
aus dem Gefolge der elftausend, die mit Sankt Ursula in Köln begraben
liegen, zog hm, fand deren Leichname auf und führte sie nach seinem
Kloster, wo die heiligen Leiber großer Verehrung teilhaft wurden.
Da aber eine Zeit großer Kriegsunruhen kam, so wurden die Kirchenschätze
heimlich verborgen, und die drei Jungfrauengerippe bekamen ihre Stelle
unterm Dach und wurden vergessen. Solche Vernachlässigung mißfiel
aber den heiligen drei Jungfrauen - sie hatten im Leben Theumata, Eleumata
und Christantia geheißen - höchlich; sie klopften einigemal
stark an ihren Schrein, in dem sie lagen, allein es ward überhört;
darauf erschienen sie dem Küster und mahnten ihn, sie an einen schicklicheren
Ort als unters Dach zu Katzen und Mäusen zu bringen; allein der Küster
verdämmerte den Befehl zu wiederholten Malen. Darauf geschähe
es in der Nacht, als die Mönche mit dem Abt im Chor die Matutine
sangen, daß drei Jungfrauen in die Kirche traten, gegen den Altar
sich verneigten, dann gegen den Abt, dann gegen die Konventualen und dann
durch eine Türe in der Kirche, welche stets fest verschlossen gehalten
wurde, mitten hindurchgingen. Jeder Mönch glaubte, diese Erscheinung
allein erblickt zu haben, und dann offenbarte sich, daß alle sie
zugleich gesehen hatten, und da kamen sie auf den Gedanken, ob das nicht
die drei Ursulinerinnen gewesen, und gingen auf den Kirchboden hinauf,
da lag wohl noch unversehrt der heilige Reliquienschrein, aber ohne die
jungfräulichen Gebeine. Da fuhr der Abt gen Köln zur Frau Äbtissin
des Klosters und Stifts der heiligen Ursula, und da fanden sich die Körper
der Jungfrauen wieder auf derselben Stelle, allwo man sie ausgegraben,
und wie zuvor ein Traum dem Abt von Folcodesrode gezeigt, und da wollte
der Abt sie wiederhaben, aber die Frau Äbtissin sprach: Nein, hochwürdigster
Herr Abt; die lieben Herrinnen sind uns gar sehr willkommen. Hättet
Ihr sie besser gehalten, würden sie wohl bei Euch in Thüringen
geblieben sein. Als nun der Abt über solch abschlägigen Bescheid
sehr bekümmert war, faßte die Frau Äbtissin ein christlich
Mitleiden und suchte ihm aus dem Knochengerümpel ein etwas schadhaftes
Jungfrauenhaupt, das gab sie ihm als Ersatz, und er zog damit traurig
heim.
Quelle: Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch,
Leipzig 1853