Die wilde Kirche
Auf den Ohmberg im Eichsfeld kam auf seinem Bekehrungsgange durch Thüringen
auch der heilige Bonifazius und zerstörte dort eine heidnische Opferstätte
auf einem Felsen, der noch jetzt der große Stein heißt. Dort
pflanzte er ein Kreuz auf und predigte von einem grausam steilen Felsen,
der, vom Ohmberge abgerissen, ganz einzeln sich erhebt, fast wie der erst
spät wieder zugänglich gemachte Bonifaziusfels beim Schlosse
Altenstein, und dieser Fels und Ort heißt noch heute die wilde Kirche.
An des Berges Fuß gründete Bonifazius ein Kloster, das hieß
zu den drei Annen. Als einstens eine furchtbare Pest das Eichsfeld verheerte
und die Geistlichen dahingerafft hatte, sollen neugeborne Kinder zur wilden
Kirche getragen und allda von einem Einsiedler getauft worden sein. Es
ist dort nicht so recht geheuer; manche haben schon wundersamen Glockenklang
vernommen, und eine Frau erblickte selbst die Glocke, silberhell in offner
Glockenstube hängend über einem auch offnen überherrlichen
Dome, darinnen die Kerzen brannten und ein greiser Bischof das heilige
Amt hielt. Ganz erstaunt eilte das Weib, ihren Mann zu rufen, als sie
ihn aber endlich gefunden hatte und zur Stelle führte, war die Kirche
verschwunden, gleich der Geisterkirche am Ochsenkopf und auf Burg Waldstein.
Quelle: Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch,
Leipzig 1853