Von dem Hörseelenberge
Mitten im Thüringerlande, zwischen Gotha und Eisenach, liegt ein hoher, schroffer, kahler Berg, von weitem recht anzusehen wie ein Sarg; dicht an seinem Fuße hin zieht die Eisenbahn, die schneidet durch ein Dorf des Namens Sättelstädt. Dieser Berg ward der Hörseelenberg geheißen schon in grauen Zeiten, darum, weil man in und aus ihm manch seltsamlich und grauenhaft Getön vernommen, absonderlich bei einer Felskluft hoch oben unterm steinigen Gipfelhorn nach Eisenach hinwärts, und das war das Geschrei der Seelen, das man allda hörte, neben dem Geräusch unterirdischer fallender Wasser und dem Geheul der Windsbraut, darum nannte man den Berg auch auf Latein Mons horrisonus. Von ihm hat auch das Talflüßchen, die Hörsei, seinen Namen, und er wird bis heute Hörselberg, das ist das alte Hörseelenberg, genannt. Viele wunderbarliche Sagen gehen bis auf den heutigen Tag von diesem Berge, der auch eine Wetterscheide ist; oft umwebern ihn meteorische Flammen, und die Blitze spielen um seinen kahlen Scheitel. Einst erhoben sich am hellen Tage bei Eisenach drei große Feuer, brannten eine Zeitlang in den Lüften, taten sich dann zusammen und wieder voneinander und fuhren endlich alle drei in den Hörseelenberg hinein.
Ein König in England hatte ein holdseliges Frauenbild aus geringem
Stande zu sich erhoben, Reinssweig oder Rinswiga genannt, war aber bald
hernach verstorben, und Reinssweig betrauerte ihren Herrn und Gemahl tief
und sehr und ließ viel für ihn beten, damit seine Seele vom
Fegefeuer erlöst werde. Da hatte sie zu einer Nacht ein Gesicht,
und sie hörte ihres Gemahles Stimme und sah seine Gestalt und erfuhr
von ihm, er leide Pein im fernen Thüringerlande in eines Berges Schoß
mit andern armen Seelen, und ihre Fürbitten und Gebete überm
Meere drüben frommten ihm nicht. Da erhob sich die Königin mit
all ihren Schätzen, ihren Jungfrauen und ihrer Dienerschaft und fuhr
über Meer nach Deutschland herüber, und der Schatten zeigte
ihr die Straßen an, und sie kam an des Berges Fuß, wo er sanft
nach Gotha zu sich abdacht, dort baute sie ein Kirchlein und ein klösterliches
Haus, und da sie selbst zum öftern die Stimmen der gequälten
Seelen zu vernehmen glaubte, so nannte sie den Ort Satans Stätte,
daraus ist hernachmals Sättelstätt geworden, als sich Leute
anbauten und den Ort bewohnten. Diese fromme Königin erbaute in jener
Gegend der Kapellen noch mehrere und diente nebst ihren Frauen Gott im
eifrigen Gebet, bis sie ihres Gemahles Seele aus dem Fegefeuersitz im
Hörseelenberge erlöste. Als sie dann gestorben war, sind ihre
Jungfrauen nach Eisenach gezogen, allwo Ludwig des Milden Tochter, Jungfrau
Adelheid, das Nikolaikloster begründet hatte, und haben in diesem
Kloster als Benediktinerinnen ihr Leben beschlossen.
Quelle: Ludwig Bechstein,
Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853