Maria im Elende
Tief im Harzgebirge führte ein Fuhrmann zur Winterszeit eine Last
Weines, und an unwegsamer sumpfiger Stelle blieb sein Wagen stecken, ja
es drohten Schiff und Geschirr im Schnee und Morast gar zu versinken.
Da rief er, in tiefer Waldeinsamkeit sich von aller menschlichen Hilfe
verlassen sehend, Gott und die heilige Jungfrau an, ihn aus diesem Elende
zu retten, und siehe, es erschien ihm die Königin der Himmel und
rettete ihn. Da sie ihn nun fragte, welche Fracht er geladen habe, und
er antwortete: Wein!, so wünschte sie den Wein zu kosten. Dazu war
der Fuhrmann gleich willig und bereit, allein er klagte, daß er
keinen Becher habe. Da rührte Maria an einen Dornenstrauch, und alsbald
sproßten Rosen aus dem Strauche, welche Maria brach und zu einem
Becher formte, den sie dem Fuhrmann gab. Dieser ließ Wein in den
Rosenbecher fließen, und siehe, der zarte Pokal hielt den Wein,
wie aber der Fuhrmann nun den Wein seiner Retterin reichen wollte, so
war sie verschwunden, und sein Blick suchte sie vergebens ringsumher.
Leicht zogen jetzt die Pferde die Last des Wagens, bis sie an ein einsames
Kirchlein kamen, das schon zu des Bonifazius Zeiten in diesen tiefen Waldeinöden
erbaut sein sollte. Der Fuhrmann erkannte darin, daß seine Pferde
am Kirchlein anhielten, den Wink des Himmels, hier zu danken, er trat
hinein und erstaunte, als er in dem darin aufgestellten Marienbilde ganz
das holdselige Frauenbild wiedererkannte, das ihm helfend und rettend
erschienen war. Dankend kniete er nieder und stellte das wundersame Gefäß,,
den Blumenkelch, auf den Altar und erzählte allen Menschen, die er
traf, das hohe Wunder. Da strömten aus Nähe und Ferne bald die
Gläubigen herbei, die Wunderkraft der hilfreichen Maria im Elende
anzurufen; es begründete sich, wie dort zu Grimmenthal im Henneberger
Lande, ein Wallfahrtsort und ein Hospital; es mußten neue und viele
Türen in die Mauerwände der Kirche gebrochen werden, und die
Wände bedeckten sich mit Krücken der Lahmen und Brüchigen,
die geheilt von dannen gingen. Ein Nonnenkloster enstand, eine neue herrliche
Kirche ward erbaut und die Rosenkirche genannt, weil ein Kreuz von vierundsiebenzig
steinernen Rosen ihr Gesimse zierte. Auch ein Haus für sechs Kanoniker
ward erbaut, und große Schätze wurden gesammelt, welche noch
dort vergraben liegen sollen, nachdem schon längst der Glanz und
aller fromme Wunderglaube dahin ist. Als die Zeit der Verwüstung
gekommen war und das hilfreiche Marienbild beseitigt wurde, hat es sich
erhoben und ist nach Heiligenstadt gewandelt, wo es noch bis heute der
Verehrung gläubiger Christen sich erfreut.
Quelle: Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch,
Leipzig 1853