Die Frau von Alvensleben
Vor etlichen hundert Jahren lebte zu Kalbe in dem Werder aus dem Alvenslebischen
Geschlecht eine betagte, gottesfürchtige, den Leuten gnädige
und zu dienen bereitsame Edelfrau; sie stand vornehmlich den Bürgersweibern
bei in schweren Kindesnöten und wurde in solchen Fällen von
jedermänniglich begehrt und hochgeehret. Nun ereignete sich aber
folgendes: Zu nächtlichen Zeiten kam eine Magd vor das Schloß,
klopfte an und rief ängstlich: sie möge ihr doch nicht zuwider
sein lassen, womöglich alsobald aufzustehen und mit hinaus vor die
Stadt zu folgen, wo eine schwangere Frau in Kindesnot liege, weil die
äußerste Stunde und Gefahr da sei und ihre Frau ihrem Leibe
gar keinen Rat wisse. Die Adelfrau sprach: »Es ist gleich mitten
in der Nacht, alle Stadttore sind gesperrt, wie wollen wir hinauskommen?«
Die Magd antwortete: das Tor sei schon im voraus geöffnet, sie solle
nur fortmachen (doch sich hüten, wie einige hinzusetzen, an dem Ort,
wo sie hingeführt werden würde, nichts zu essen noch zu trinken,
auch das ihr Angebotene nicht anzurühren). Darauf stand die adlige
Frau aus dem Bett, zog sich an, kam herunter und ging mit der Magd fort,
welche angeklopft hatte; das Tor fand sie aufgetan, und wie sie weiter
ins Feld kamen, war da ein schöner Gang, der mitten in einen Berg
führte. Der Berg stand aufgesperrt, und ob sie wohl sah, das Ding
wäre unklar, beschloß sie doch unerschrocken weiterzugehen,
bis sie endlich vor ein kleines Weiblein gelangte, das auf dem Bette lag
in großen Geburtswehen. Die adlige Frau aber reichte ihr Hilfe (nach
einigen brauchte sie nur die Hand ihr auf den Leib zu legen), und glücklich
wurde ein Kindlein zum Tageslicht geboren. Nach geförderter Sache
sehnte sie sich wieder aus dem Berg heimzugehen, nahm von der Kindbetterin
Abschied (ohne etwas von den Speisen und Getränken, die ihr geboten
waren, berührt zu haben), und die vorige Magd gesellte sich ihr aufs
neue zu und brachte sie unverletzt nach dem Schlosse zurück. Vor
dem Torweg aber stand die Magd still, bedankte sich höchlich in ihrer
Frauen Namen und zog einen güldenen Ring vom Finger herab, den verehrte
sie der adligen Frau mit den Worten: »Nehmet dies teure Pfand wohl
in acht und lasset es nicht von Euch noch von Eurem Geschlecht kommen;
die von Alvensleben werden blühen, solange sie diesen Ring besitzen;
kommt er ihnen dermaleinst ab, so muß der ganze Stamm erlöschen.«
Hiermit verschwand die Magd.
Dieser Ring soll noch heutigestages richtig und eigentlich bei dem Hause
verwahrt werden und zu guter Sicherheit in Lübeck hinterlegt sein.
Andere aber behaupten, er sei bei der Teilung in zwei Linien mit Fleiß
entzweigeteilt worden. Noch andere: die eine Hälfte sei zerschmolzen,
seitdem gehe es dem einen Stamm übel, die andere Hälfte liege
bei dem andern Stamme zu Zichtow. Auch wird erzählt: Die hilfreiche
Frau war ein Ehweib; als sie drauf den folgenden Morgen ihrem Ehherrn
die Geschichte erzählt, die ihr nachts begegnet, habe er ihr's nicht
wollen glauben, bis sie gesprochen: »Ei, wollt Ihr mir nicht glauben,
so holt nur die Schlüssel zu jener Stube vom Tische her, darinnen
wird der Ring noch liegen.« Es befand sich so ganz richtig. Es ist
ein Wunderliches um die Geschenke, die Menschen von den Geistern empfangen
haben.
Kommentar:
Tenzel: Monatl. Unterr., 1698, S. 525. Hammelmann: Oldenb. Chronik.
Der vielförmige Hinzelmann, S. 313 - 316. Prätor.: Weltbeschreibung,
I, S. 95, 101 - 104,
und Glückstopf, S. 488, aus mündlichen Sagen und aus:
Cyriak Edinus' poematischen Büchern, die er vom Geschlecht der Alvensleben,
1581, in 4 to. herausgegeben.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 68