Das ertrunkene Kind
Man pflegt vielerlei von den Wassern zu erzählen,
und daß der See oder der Fluß alle Jahre ein unschuldiges
Kind haben müsse; aber er leide keinen toten Leichnam und werfe ihn
früh oder spät ans Ufer aus, ja sogar das letzte Knöchelchen,
wenn es zu Grunde gesunken sei, müsse wieder hervor. Einmal war einer
Mutter ihr Kind im See ertrunken, sie rief Gott und seine Heiligen an,
ihr nur wenigstens die Gebeine zum Begräbnis zu gönnen. Der
nächste Sturm brachte den Schädel, der folgende den Rumpf ans
Ufer, und nachdem alles beisammen war, faßte die Mutter sämtliche
Beinlein in ein Tuch und trug sie zur Kirche. Aber, o Wunder! als sie
in den Tempel trat, wurde das Bündel immer schwerer, und endlich,
als sie es auf die Stufen des Altars legte, fing das Kind zu schreien
an und machte sich zu jedermanns Erstaunen aus dem Tuche los. Nur fehlte
ein Knöchelchen des kleinen Fingers an der rechten Hand, welches
aber die Mutter nachher noch sorgfältig aufsuchte und fand. Dies
Knöchelchen wurde in der Kirche unter anderen Reliquien zum Gedächtnis
aufgehoben. - Die Schiffer und Fischerleute bei Küstrin in der Neumark
reden ebenfalls von einem den Oderstrom beherrschenden unbekannten Wesen,
das jährlich sein bestimmtes Opfer haben müsse. Wem nun dies
Schicksal zugedacht sei, für den werde der Wassertod unvermeidlich.
Die Halloren zu Halle fürchten besonders den Johannestag.
Kommentar:
Wilh. Meister, III, 501. Nationalzeitung der Deutschen 1796, S. 74.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm
Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 62