Das quellende Silber
Im Februar des Jahrs 1605, unter dem Herzog Heinrich Julius von Braunschweig,
trug sich zu, daß eine Meile Wegs von Quedlinburg, zum Tal genannt,
ein armer Bauer seine Tochter in den nächsten Busch schickte, Brennholz
aufzulesen. Das Mädchen nahm dazu einen Tragkorb und einen Handkorb
mit, und als es beide angefüllt hatte und nach Haus gehen wollte,
trat ein weißgekleidetes Männlein zu ihm hin und fragte: »Was
trägst du da?« - »Aufgelesenes Holz«, antwortete
das Mädchen, »zum Heizen und Kochen.« - »Schütte
das Holz aus«, sprach weiter das Männlein, »nimm deine
Körbe und folge mir; ich will dir etwas zeigen, das besser und nützlicher
ist als das Holz.« Nahm es dabei an der Hand, führte es zurück
an einen Hügel und zeigte ihm einen Platz, etwa zweier gewöhnlichen
Tische breit, ein schön lauter Silber von kleiner und großer
Münze von mäßiger Dicke, darauf ein Bild, wie eine Maria
gestaltet, und ringsherum ein Gepräge von uralter Schrift. Als dieses
Silber in großer Menge gleichsam aus der Erde hervorquoll, entsetzte
sich das Mägdlein davor und wich zurück; wollte auch nicht seinen
Handkorb von Holz ausschütten. Hierauf tat's das weiße Männlein
selbst, füllte ihn mit dem Geld und gab ihn dem Mägdlein und
sprach: »Das wird dir besser sein als Holz.« Es nahm ihn voll
Bestürzung, und als das Männlein begehrte, es sollte auch seinen
Tragkorb ausschütten und Silber hineinfassen, wehrte es ab und sprach:
es müsse auch Holz mit heimbringen, denn es wären kleine Kinder
daheim, die müßten eine warme Stube haben, und dann müßte
auch Holz zum Kochen dasein. Damit war das Männlein zufrieden und
sprach: »Nun, so ziehe damit hin«, und verschwand darauf.
Das Mädchen brachte den Korb voll Silber nach Haus und erzählte, was ihm begegnet war. Nun liefen die Bauern haufenweis mit Hacken und anderm Gerät in das Wäldchen und wollten sich ihren Teil vom Schatz auch holen, aber niemand konnte den Ort finden, wo das Silber hervorgequollen war.
Der Fürst von Braunschweig hat sich von dem geprägten Silber
ein Pfund holen lassen, so wie sich auch ein Bürger aus Halberstadt,
N. Everkan, eins gelöst.
Kommentar: Happel: Relat. curios., III, 529.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm
Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 160