Das Vogelnest
Noch herrscht in mehreren Gegenden der Glaube, daß es gewisse Vogelnester
(auch Zwissel- und Zeißelnestlein genannt) gebe, die, selbst gewöhnlich
unsichtbar, jeden, der sie bei sich trägt, unsichtbar machen. Um
sie nun zu finden, muß man sie zufällig in einem Spiegel oder
Wasser erblicken. Vermutlich hängt die Sage mit dem Namen einer Gattung
des Zweiblatts, bifolium, zusammen, die in fast allen europäischen
Sprachen Vogelnest heißt und etwas alraunhaft zu sein scheint.
Den näheren Verlauf ergibt der angeführte Roman des XVII. Jahrhunderts
am deutlichsten, gewiß aus volksmäßiger Quelle:
Unter solchem Gespräch sah ich am Schatten oder Gegenschein eines
Baums im Wasser etwas auf der Zwickgabel liegen, das ich gleichwohl auf
dem Baum nicht sehen konnte, solches wies ich meinem Weib Wunders wegen.
Als sie solches betrachtet und die Zwickgabel gemerkt, darauf es lag,
kletterte sie auf den Baum und holte es herunter, was wir im Wasser gesehen
hatten. Ich sah ihr gar eben zu und wurde gewahr, daß sie in demselben
Augenblick verschwand, als sie das Ding, dessen Schatten (Abbild) wir
im Wasser erblickt, in die Hand genommen hatte; allein ich sah noch wohl
ihre Gestalt im Wasser, wie sie nämlich den Baum wieder abkletterte
und ein kleines Vogelnest in der Hand hielt, das sie vom Zwickast heruntergenommen.
Ich fragte sie: was sie für ein Vogelnest hätte? Sie hingegen
fragte mich: ob ich sie denn sähe? Ich antwortete: »Auf dem
Baum selbst sehe ich dich nicht, aber wohl deine Gestalt im Wasser.«
- »Es ist gut«, sagte sie, »wenn ich herunterkomme,
wirst du sehen, was ich habe.« Es kam mir gar wunderlich vor, daß
ich mein Weib sollte reden hören, die ich doch nicht sah, und noch
seltsamer, daß ich ihren Schatten an der Sonne wandeln sah und sie
selbst nicht. Und da sie sich besser zu mir in den Schatten näherte,
so daß sie selbst keinen Schatten mehr warf, weil sie sich nunmehr
außerhalb dem Sonnenschein im Schatten befand, konnte ich gar nichts
mehr von ihr merken, außer daß ich ein kleines Geräusch
vernahm, welches sie beides mit ihrem Fußtritt und ihrer Kleidung
machte, welches mir vorkam, als ob ein Gespenst um mich her gewesen wäre;
sie setzte sich zu mir und gab mir das Nest in die Hand, sobald ich dasselbige
empfangen, sah ich sie wiederum, hingegen sie aber mich nicht; solches
probierten wir oft miteinander und befanden jedesmal, daß dasjenige,
so das Nest in Händen hatte, ganz unsichtbar war. Drauf wickelte
sie das Nestlein in ein Nasentüchel, damit der Stein oder das Kraut
oder Wurzel, welches sich im Nest befand und solche Wirkung in sich hatte,
nicht herausfallen sollte und etwan verloren würde, und nachdem sie
solches neben sich gelegt, sahen wir einander wiederum wie zuvor, ehe
sie auf den Baum gestiegen; das Nestnastüchel sahen wir nicht, konnten
es aber an demjenigen Ort wohl fühlen, wohin sie es geleget hatte.
Kommentar:
Michaeler: Vorrede zum Iwein, Wien 1786, S. 54.
Simplicissimus: Springinsfeld, Kap. 23.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm
Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 85