Der Drache fährt aus
Das Alpenvolk in der Schweiz hat noch viele Sagen
bewahrt von Drachen und Würmern, die vor alter Zeit auf dem Gebirge
hausten und oftmals verheerend in die Täler herabkamen. Noch jetzt,
wenn ein ungestümer Waldstrom über die Berge stürzt, Bäume
und Felsen mit sich reißt, pflegt es in einem tiefsinnigen Sprichwort
zu sagen: »Es ist ein Drach ausgefahren.« Folgende Geschichte
ist eine der merkwürdigsten:
Ein Binder aus Luzern ging aus, Daubenholz für seine Fässer zu suchen. Er verirrte sich in eine wüste, einsame Gegend, die Nacht brach ein, und er fiel plötzlich in eine tiefe Grube, die jedoch schlammig war, wie in einen Brunnen hinab. Zu beiden Seiten auf dem Boden waren Eingänge in große Höhlen; als er diese genauer untersuchen wollte, stießen ihm zu seinem großen Schrecken zwei scheußliche Drachen auf. Der Mann betete eifrig, die Drachen umschlangen seinen Leib verschiedenemal, aber sie taten ihm kein Leid. Ein Tag verstrich und mehrere, er mußte vom 6. November bis 10. April in Gesellschaft der Drachen harren. Er nährte sich gleich ihnen von einer salzigen Feuchtigkeit, die aus den Felsenwänden schwitzte. Als nun die Drachen witterten, daß die Winterszeit vorüber war, beschlossen sie auszufliegen. Der eine tat es mit großem Rauschen, und während der andere sich gleichfalls dazu bereitete, ergriff der unglückselige Faßbinder des Drachen Schwanz, hielt fest daran und kam aus dem Brunnen mit heraus. Oben ließ er los, wurde frei und begab sich wieder in die Stadt. Zum Andenken ließ er die ganze Begebenheit auf einen Priesterschmuck sticken, der noch jetzt in des heiligen Leodagars Kirche zu Luzern zu sehen ist. Nach den Kirchenbüchern hat sich die Geschichte im Jahre 1420 zugetragen.
Kommentar: Scheuchzer: Itinera
per alpinas regiones, III, 386, 387, 396. Valvassor:
Ehre von Crain, III, c. 32. Seyfried in Medulla, p. 629, N. 5.
Vgl. Gesta rom., c. 114.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 216