Der einkehrende Zwerg
Vom Dörflein Ralligen am Thuner See und
von Schillingsdorf, einem durch Bergfall verschütteten Ort des Grindelwaldtales,
vermutlich von andern Orten mehr, wird erzählt: Bei Sturm und Regen
kam ein wandernder Zwerg durch das Dörflein, ging von Hütte
zu Hütte und pochte regentriefend an die Türen der Leute, aber
niemand erbarmte sich und wollte ihm öffnen, ja sie höhnten
ihn noch aus dazu. Am Rand des Dorfes wohnten zwei fromme Arme, Mann und
Frau, da schlich das Zwerglein müd und matt an seinem Stab einher,
klopfte dreimal bescheidentlich ans Fensterchen, der alte Hirt tat ihm
sogleich auf und bot gern und willig dem Gaste das wenige dar, was sein
Haus vermochte. Die alte Frau trug Brot auf, Milch und Käs, ein paar
Tropfen Milch schlurfte das Zwerglein und aß Brosamen von Brot und
Käse. »Ich bin's eben nicht gewohnt«, sprach es, »so
derbe Kost zu speisen, aber ich dank euch von Herzen und Gott lohn's;
nun ich geruht habe, will ich meinen Fuß weitersetzen.« -
»Ei bewahre«, rief die Frau, »in der Nacht in das Wetter
hinaus, nehmt doch mit einem Bettlein vorlieb.« Aber das Zwerglein
schüttelte und lächelte: »Droben auf der Fluh habe ich
allerhand zu schaffen und darf nicht länger ausbleiben, morgen sollt
ihr mein schon gedenken.« Damit nahm's Abschied, und die Alten legten
sich zur Ruhe. Der anbrechende Tag aber weckte sie mit Unwetter und Sturm,
Blitze fuhren am roten Himmel und Ströme Wassers ergossen sich. Da
riß oben am Joch der Fluh ein gewaltiger Fels los und rollte zum
Dorf herunter mitsamt Bäumen, Steinen und Erde. Menschen und Vieh,
alles, was Atem hatte im Dorf, wurden begraben, schon war die Woge gedrungen
bis an die Hütte der beiden Alten; zitternd und bebend traten sie
vor ihre Türe hinaus. Da sahen sie mitten im Strom ein großes
Felsenstück nahen, oben drauf hüpfte lustig das Zwerglein, als
wenn es ritte, ruderte mit einem mächtigen Fichtenstamm, und der
Fels staute das Wasser und wehrte es von der Hütte ab, daß
sie unverletzt stand und die Hausleute außer Gefahr. Aber das Zwerglein
schwoll immer größer und höher, ward zu einem ungeheuren
Riesen und zerfloß in Luft, während jene auf gebogenen Knien
beteten und Gott für ihre Errettung dankten.
Kommentar:
Volkssage des Berner Oberlandes, s. Wyß: Volkssagen, Bern 1815,
S. 62 - 79.
Vgl. 315 und Alpenrosen 1813, S. 210 - 227.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 45