Der Glockenguß zu Breslau [Wrocław]
Als die Glocke zu St. Maria Magdalena in Breslau
gegossen werden sollte und alles dazu fast fertig war, ging der Gießer
zuvor zum Essen, verbot aber dem Lehrjungen bei Leib und Leben, den Hahn
am Schmelzkessel anzurühren. Der Lehrjunge aber war vorwitzig und
neugierig, wie das glühende Metall doch aussehen möge, und wie
er so den Kran bewegte und anregte, fuhr er ihm wider Willen ganz heraus,
und das Metall rann und rann in die zubereitete Form. Höchst bestürzt
weiß sich der arme Junge gar nicht zu helfen, endlich wagt er's
doch und geht weinend in die Stube und bekennt seinem Meister, den er
um Gottes willen um Verzeihung bittet. Der Meister aber wird vom Zorn
ergriffen, zieht das Schwert und ersticht den Jungen auf der Stelle. Dann
eilt er hinaus, will sehen, was noch vom Werk zu retten sei, und räumt
nach der Verkühlung ab. Als er abgeräumt hatte, siehe, so war
die ganze Glocke trefflich wohl ausgegossen und ohne Fehl; voll Freude
kehrte der Meister in die Stube zurück und sah nun erst, was für
Übels er getan hatte. Der Lehrjunge war verblichen, der Meister wurde
eingezogen und von den Richtern zum Schwert verurteilt. Inmittelst war
auch die Glocke aufgezogen worden, da bat der Glockengießer flehentlich:
ob sie nicht noch geläutet werden dürfte, er möchte ihre
Resonanz auch wohl hören, da er sie doch zugerichtet hätte,
wenn er die Ehre vor seinem letzten Ende von den Herren haben könnte.
Die Obrigkeit ließ ihm willfahren, und seit der Zeit wird mit dieser
Glocke allen armen Sündern, wenn sie vom Rathaus herunterkommen,
geläutet. Die Glocke ist so schwer, daß, wenn man fünfzig
Schläge gezogen hat, sie andere fünfzig von selbst gehet.
Kommentar: Ungarischer
Simplicissim., 1683, S. 43, 44.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 125