Der Kindelsberg
Hinter dem Geißenberg in Westfalen ragt
ein hoher Berg mit dreien Köpfen hervor, davon heißt der mittelste
noch der Kindelsberg, da stand vor alten Zeiten ein Schloß,
das gleichen Namen führte, und in dem Schloß wohnten Ritter,
die waren gottlose Leute. Zur Rechten hatten sie ein sehr schönes
Silberbergwerk, davon wurden sie stockreich, und von dem Reichtum wurden
sie so übermütig, daß sie sich silberne Kegel machten,
und wenn sie spielten, so warfen sie diese Kegel mit silbernen Kugeln.
Der Übermut ging aber noch weiter, denn sie buken sich große
Kuchen von Semmelmehl wie Kutschenräder, machten mitten Löcher
darein und steckten sie an die Achsen. Das war eine himmelschreiende Sünde,
denn so viele Menschen hatten kein Brot zu essen. Gott ward es endlich
auch müde. Eines Abends spät kam ein weißes Männchen
ins Schloß und sagte an, daß sie alle binnen dreien Tagen
sterben müßten, und zum Wahrzeichen gab er ihnen, daß
diese Nacht eine Kuh zwei Lämmer werfen würde. Das traf auch
ein, aber niemand kehrte sich daran als der jüngste Sohn, der Ritter
Siegmund hieß, und eine Tochter, die eine gar schöne Jungfrau
war. Diese beteten Tag und Nacht. Die andern starben an der Pest, aber
diese beiden blieben am Leben. Nun aber war auf dem Geißenberg ein
junger kühner Ritter, der ritt beständig ein großes schwarzes
Pferd und hieß darum der Ritter mit dem schwarzen Pferd. Er war
ein gottloser Mensch, der immer raubte und mordete. Dieser Ritter gewann
die schöne Jungfrau auf dem Kindelsberg lieb und wollte sie zur Ehe
haben, sie schlug es ihm aber beständig ab, weil sie einem jungen
Grafen von der Mark verlobt war, der mit ihrem Bruder in den Krieg gezogen
war und dem sie treu bleiben wollte. Als aber der Graf immer nicht aus
dem Krieg zurückkam und der Ritter mit dem schwarzen Pferd sehr um
sie warb, so sagte sie endlich: »Wenn die grüne Linde hier
vor meinem Fenster wird dürr sein, so will ich dir gewogen werden.«
Der Ritter mit dem schwarzen Pferd suchte so lange in dem Lande, bis er
eine dürre Linde fand, so groß wie jene grüne, und in
einer Nacht bei Mondenschein grub er diese aus und setzte die dürre
dafür hin. Als nun die schöne Jungfrau aufwachte, so war's so
hell vor ihrem Fenster, da lief sie hin und sah erschrocken, daß
eine dürre Linde da stand. Weinend setzte sie sich unter die Linde,
und als der Ritter nun kam und ihr Herz verlangte, sprach sie in ihrer
Not: »Ich kann dich nimmermehr lieben.« Da ward der Ritter
mit dem schwarzen Pferd zornig und stach sie tot. Der Bräutigam kam
noch denselben Tag zurück, machte ihr ein Grab und setzte eine Linde
dabei und einen großen Stein, der noch zu sehen ist.
Kommentar: Stillings
Leben, II, 24 - 29.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 234