Der Wolf und der Tannenzapf
Zu Aachen im Dom zeigt man an dem einen Flügel
des ehernen Kirchentors einen Spalt und das Bild eines Wolfs nebst einem
Tannenzapfen, beide gleichfalls aus Erz gegossen. Die Sage davon lautet:
Vorzeiten, als man diese Kirche zu bauen angefangen, habe man mitten im
Werk einhalten müssen aus Mangel an Geld. Nachdem nun die Trümmer
eine Weile so dagestanden, sei der Teufel zu dem Ratsherrn gekommen mit
dem Erbieten, das benötigte Geld zu geben unter der Bedingung, daß
die erste Seele, die bei der Einweihung der Kirche in die Türe hineinträte,
sein eigen würde. Der Rat habe lang gezaudert, endlich doch eingewilligt
und versprochen, den Inhalt der Bedingung geheimzuhalten. Darauf sei mit
dem Höllengeld das Gotteshaus ausgebaut, inmittelst aber auch das
Geheimnis ruchbar geworden. Niemand wollte also die Kirche zuerst betreten,
und man sann endlich eine List aus. Man fing einen Wolf im Wald, trug
ihn zum Haupttor der Kirche, und an dem Festtag, als die Glocken zu läuten
anhuben, ließ man ihn los und hineinlaufen. Wie ein Sturmwind fuhr
der Teufel hintendrein und erwischte das, was ihm nach dem Vertrag gehörte.
Als er aber merkte, daß er betrogen war und man ihm eine bloße
Wolfsseele geliefert hatte, erzürnte er und warf das eherne Tor so
gewaltig zu, daß der eine Flügel sprang und den Spalt bis auf
den heutigen Tag behalten hat. Zum Andenken goß man den Wolf und
seine Seele, die dem Tannenzapf ähnlich sein soll. Die Franzosen
hatten beide Altertümer nach Paris geschleppt, 1815 wurden sie zurückgegeben
und zu beiden Seiten der Türe auf Postamenten wieder hingestellt.
Der Wolf hat aber ein Paar Pfoten verloren. - Andere erzählen es
von einer sündhaften Frau, die man für das Wohl der ganzen Stadt
dem Teufel geopfert habe, und erklären die Frucht durch eine Artischocke,
welche der Frauen arme Seele bedeuten soll.
Kommentar: Mündlich.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 186