Die Füße der Zwerge
Vor alten Zeiten wohnten die Menschen im Tal
und rings um sie in Klüften und Höhen die Zwerge, freundlich
und gut mit den Leuten, denen sie manche schwere Arbeit nachts verrichteten;
wenn nun das Landvolk frühmorgens mit Wagen und Geräten herbeizog
und erstaunte, daß alles schon getan war, steckten die Zwerge im
Gesträuch und lachten hellauf. Oftmals zürnten die Bauern, wenn
sie ihr noch nicht ganz zeitiges Getreide auf dem Acker niedergeschnitten
fanden, aber als bald Hagel und Gewitter hereinbrach und sie wohl sahen,
daß vielleicht kein Hälmlein dem Verderben entronnen sein würde,
da dankten sie innig dem voraussichtigen Zwergvolk. Endlich aber verscherzten
die Menschen durch ihren Frevel die Huld und Gunst der Zwerge, sie entflohen,
und seitdem hat sie kein Aug wieder erblickt. Die Ursache war diese: Ein
Hirt hatte oben am Berg einen trefflichen Kirschbaum stehen. Als die Früchte
eines Sommers reiften, begab sich, daß dreimal hintereinander nachts
der Baum geleert wurde und alles Obst auf die Bänke und Hürden
getragen war, wo der Hirt sonst die Kirschen aufzubewahren pflegte. Die
Leute im Dorfe sprachen: »Das tut niemand anders als die redlichen
Zwerglein, die kommen bei Nacht in langen Mänteln mit bedeckten Füßen
dahergetrippelt, leise wie Vögel, und schaffen den Menschen emsig
ihr Tagwerk. Schon vielmal hat man sie heimlich belauscht, allein man
stört sie nicht, sondern läßt sie kommen und gehen.«
Durch diese Reden wurde der Hirt neugierig und hätte gern gewußt,
warum die Zwerge so sorgfältig ihre Füße bärgen und
ob diese anders gestaltet wären als Menschenfüße. Da nun
das nächste Jahr wieder der Sommer und die Zeit kam, daß die
Zwerge heimlich die Kirschen abbrachen und in den Speicher trugen, nahm
der Hirt einen Sack voll Asche und streute die rings um den Baum herum
aus. Den andern Morgen mit Tagesanbruch eilte er zur Stelle hin, der Baum
war richtig leer gepflückt, und er sah unten in der Asche die Spuren
von vielen Gänsfüßen eingedrückt. Da lachte der Hirt
und spottete, daß der Zwerge Geheimnis verraten war. Bald aber zerbrachen
und verwüsteten diese ihre Häuser und flohen tiefer in die Berge
hinab, grollen dem Menschengeschlecht und versagen ihm ihre Hilfe. Jener
Hirt, der sie verraten hatte, wurde siech und blödsinnig fortan bis
an sein Lebensende.
Kommentar:
Aus dem Munde eines bernerischen Bauern,
mitgeteilt in Wyß: Volkssagen, S. 101 - 118.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 149