Die Lilie
Im Land zu H. war ein Edelmann, A. v. Th. genannt,
der konnte Köpfe abhauen und wieder aufsetzen. Er hatte bei sich
beschlossen, hinfort des teuflischen, gefährlichen Dings müßig
zu gehen, eh er einmal darüber in ein Unglück geriete, wie dann
doch geschah. Bei einer Gasterei ließ er sich von guten Gesellen
überreden, diese Ergötzlichkeit ihnen noch einmal zu guter Letzt
zu zeigen. Nun wollte, wie leicht zu erachten, niemand gern seinen Kopf
dazu leihen; letztlich ließ sich der Hausknecht dazu brauchen, doch
mit dem gewissen Geding, daß ihm sein Kopf wieder festgemacht würde.
Nun hieb ihm der Edelmann den Kopf ab, aber das Wiederaufsetzen wollte
nicht gehen. Da sprach er zu den Gästen: »Es ist einer unter
euch, der mich verhindert, den will ich vermahnt haben und gewarnt, daß
er es nicht tue.« Da versuchte er's abermals konnte aber nichts
ausrichten. Da vermahnte und dräute er zum andernmal, ihn unverhindert
zu lassen. Da das auch nicht half und er beim drittenmal den Kopf nicht
wieder aufsetzen konnte, ließ er auf dem Tisch eine Lilie wachsen,
der hieb er das Haupt und die Blume oben ab. Alsbald fiel einer von den
Gästen hinter sich von der Bank und war ihm der Kopf ab. Nun setzte
er dem Hausknecht den seinen wieder auf und floh aus dem Lande, bis die
Sache vertragen ward und er Verzeihung erhielt.
Kommentar:
Aug. Lercheimer: Bedenken von der Zauberei, Bl. 14 und 15.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm
Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 93