Der Hahnenkampf
Zu einer Zeit kam Karl der Große auf sein Schloß
bei Kempten zu seiner Gemahlin Hildegard. Als sie nun eines Tages über
Tische saßen und mancherlei von der Vorfahren Regierung redeten,
während ihre Söhne Pippin, Karl und Ludwig darneben standen,
hub Pippin an und sprach: »Mutter, wenn einmal der Vater im Himmel
ist, werde ich dann König?« Karl aber wandte sich zum Vater
und sagte: »Nicht Pippin, sondern ich folge dir nach im Reich.«
Ludwig aber, der jüngste, bat beide Eltern, daß sie ihn doch
möchten lassen König werden. Als die Kinder so stritten, sprach
die Königin: »Eure Zwist wollen wir bald ausmachen; geht hinab
ins Dorf und laßt euch jeder sich einen Hahn von den Bauern geben.«
Die Knaben stiegen die Burg hinab mit ihrem Lehrmeister und den übrigen
Schülern und holten die Hähne. Hierauf sagte Hildegard: »Nun
laßt die Hähne aufeinander los! Wessen Hahn im Kampfe siegt,
der soll König werden.« Die Vögel stritten, und Ludwigs
Hahn überwand die beiden andern. Dieser Ludwig erlangte auch wirklich
nach seines Vaters Tode die Herrschaft.
Kommentar: Crusius:
Ann. suev. dodecas, I, p. 330.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 438.