Die Heilingszwerge
Am Fluß Eger zwischen dem Hof Wildenau und dem
Schlosse Aicha ragen ungeheure große Felsen hervor, die man vor
alters den Heilingsfelsen nannte. Am Fuß derselben erblickt
man eine Höhle, inwendig gewölbt, auswendig, aber nur durch
eine kleine Öffnung, in die man, den Leib gebückt, kriechen
muß, erkennbar. Die Höhle wurde von kleinen Zwerglein bewohnt,
über die zuletzt ein unbekanntere alter Mann, des Namens Heiling,
als Fürst geherrscht haben soll. Einmal vorzeiten ging ein Weib,
aus dem Dorfe Taschwitz bürtig, am Vorabend von Peter Pauli in den
Forst und wollte Beeren suchen; es wurde ihr Nacht, und sie sah neben
diesem Felsen ein schönes Haus stehen. Sie trat hinein, und als sie
die Tür öffnete, saß ein alter Mann an einem Tische, schrieb
emsig und eifrig. Die Frau bat um Herberge und wurde willig angenommen.
Außer dem alten Mann war aber kein lebendes Wesen im ganzen Gemach,
allein es rumorte heftig in allen Ecken, der Frau ward greulich und schauerlich,
und sie fragte den Alten: »Wo bin ich denn eigentlich?« Der
Alte versetzte, daß er Heiling heiße, bald aber auch abreisen
werde, »denn zwei Drittel meiner Zwerge sind schon fort und entflohen«.
Diese sonderbare Antwort machte das Weib nur noch unruhiger, und sie wollte
mehr fragen, allein er gebot ihr Stillschweigen und sagte nebenbei: »Wäret
Ihr nicht gerade in dieser merkwürdigen Stunde gekommen, solltet
Ihr nimmer Herberge gefunden haben.« Die furchtsam Frau kroch demütig
in einen Winkel und schlief sanft, und wie sie den Morgen mitten unter
dem Felsstein erwachte, glaubte sie geträumt zu haben, denn nirgends
war ein Gebäude da zu ersehen. Froh und zufrieden, daß ihr
in der gefährlichen Gegend kein Leid widerfahren sei, eilte sie nach
ihrem Dorfe zurück, es war alles so verändert und seltsam. Im
Dorf waren die Häuser neu und anders aufgebaut, die Leute, die ihr
begegneten, kannte sie nicht und wurde auch nicht von ihnen erkannt. Mit
Mühe fand sie endlich die Hütte, wo sie sonst wohnte, und auch
die war besser gebaut; nur dieselbe Eiche beschattete sie noch, welche
einst ihr Großvater dahin gepflanzt hatte. Aber wie sie in die Stube
treten wollte, ward sie von den unbekannten Bewohnern als eine Fremde
von der Tür gewiesen und lief weinend und klagend im Dorfe umher.
Die Leute hielten sie für wahnwitzig und führten sie vor die
Obrigkeit, wo sie verhört und ihre Sache untersucht wurde; sieh da,
es fand sich in den Gedenk- und Kirchenbüchern, daß grad vor
hundert Jahren an ebendiesem Tag eine Frau ihres Namens, welche nach dem
Forst in die Beeren gegangen, nicht wieder heimgekehrt sei und auch nicht
mehr zu finden gewesen war. Es war also deutlich erwiesen, daß sie
volle hundert Jahr im Felsen geschlafen hatte und die Zeit über nicht
älter geworden war. Sie lebte nun ihre übrigen Jahre ruhig und
sorgenlos aus und wurde von der ganzen Gemeinde anständig verpflegt
zum Lohn für die Zauberei, die sie hatte erdulden müssen.
Kommentar:
Spieß: Vorrede zu seinem Hans Heiling.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 151.