Der Hirt auf dem Kyffhäuser
Etliche sprechen, daß bei Frankenhausen in Thüringen ein Berg
liege, darin Kaiser Friedrich seine Wohnung habe und vielmal gesehen worden.
Ein Schafhirt, der auf dem Berge hütete und die Sage gehört
hatte, fing an, auf seiner Sackpfeife zu pfeifen, und als er meinte, er
habe ein gutes Hofrecht gemacht, rief er überlaut: »Kaiser
Friedrich, das sei dir geschenkt!« Da soll sich der Kaiser hervorgetan,
dem Schäfer offenbart und zu ihm gesprochen haben: »Gott grüß
dich, Männlein, wem zu Ehren hast du gepfiffen?« - »Dem
Kaiser Friedrich«, antwortete der Schäfer. Der Kaiser sprach
weiter: »Hast du das getan, so komm mit mir, er soll dir darum lohnen.«
Der Hirt sagte: »Ich darf nicht von den Schafen gehen.« Der
Kaiser aber antwortete: »Folge mir nach, den Schafen soll kein Schaden
geschehen.« Der Hirt folgte ihm, und der Kaiser Friedrich nahm ihn
bei der Hand und führte ihn nicht weit von den Schafen zu einem Loch
in den Berg hinein. Sie kamen zu einer eisernen Tür, die alsbald
aufging. Nun zeigte sich ein schöner, großer Saal, darin waren
viel Herren und tapfre Diener, die ihm Ehre erzeugten. Nachfolgends erwiese
sich der Kaiser auch freundlich gegen ihn und fragte, was er für
einen Lohn begehre, daß er ihm gepfiffen? Der Hirt antwortete: »Keinen.«
Da sprach aber der Kaiser: »Geh hin und nimm von meinem güldnen
Handfaß den einen Fuß zum Lohn.« Da tat der Schäfer,
wie ihm befohlen ward, und wollte darauf von dannen scheiden, da zeigte
ihm der Kaiser noch viel seltsame Waffen, Harnische, Schwerter und Büchsen,
und sprach, er sollte den Leuten sagen, daß er mit diesen Waffen
das Heilige Grab gewinnen werde. Hierauf ließ er den Hirt wieder
hinausgeleiten, der nahm den Fuß mit, brachte ihn den andern Tag
zu einem Goldschmied, der ihn für echtes Gold anerkannte und ihm
abkaufte.
Kommentar: Georg Draud: Fürstliche
Tischreden, I.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 296