Hungersnot im Grabfeld
Als im Grabfeld große Hungersnot herrschte,
wanderte ein Mann mit seiner Frau und einem zarten Kinde nach Thüringen,
um dem Mangel auszuweichen. Unterwegs in einem Wald übernahm ihn
das Elend, und er sprach zur Frau: »Tun wir nicht besser, daß
wir unser Kind schlachten und sein Fleisch essen, als daß wir selbst
durch die Nahrungslosigkeit verzehrt werden?« Die Frau widersetzte
sich einem so großen Verbrechen; zuletzt aber drückte ihn der
Hunger so, daß er das Kind gewaltsam aus den Mutterarmen riß
und seinen Willen durch die Tat ausgeführt hätte, wenn nicht
Gottes Erbarmen zuvorgekommen wäre. Denn indem er, wie er hernachmals
in Thüringen oft erzählte, das Schwert zog, um das Söhnlein
zu würgen, sah er in der Ferne zwei Wölfe über einer Hindin
stehen und sie zerfleischen. Sogleich ließ er von seinem Kinde ab,
scheuchte die Wölfe vom Aas weg, das sie kaum gekostet hatten, und
kam mit dem lebendigen Sohn und der gefundenen Speise zu seiner Frau wieder.
Kommentar: Annales fuldenses ad ann. 850.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm
(Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 576