Ludwig baut eine Mauer

Einmal führte der Eiserne Landgraf den Kaiser Friedrich Rotbart, seinen Schwager, nach Naumburg aufs Schloß; da ward der Kaiser von seiner Schwester freundlich empfangen und blieb eine Zeitlang da bei ihnen. Eines Morgens lustwandelte der Kaiser, besah die Gebäu und ihre Gelegenheit und kam hinaus auf den Berg, der sich vor dem Schloß ausbreitete. Und sprach: »Eure Burg behaget mir wohl, ohne daß sie nicht Mauern hier vor der Kemnate hat, die sollte auch stark und feste sein.« Der Landgraf erwiderte: »Um die Mauern sorg ich nicht, die kann ich schnell erschaffen, sobald ich ihrer bedarf.« Da sprach der Kaiser: »Wie bald kann eine gute Mauer hierum gemachet werden?« - »Näher denn in drei Tagen«, antwortete Ludwig. Der Kaiser lachte und sprach: das wäre ja Wunder; und wenn alle Steinmetzen des deutschen Reiches hier beisammen wären, so möchte das kaum geschehen. - Es war aber an dem, daß der Kaiser zu Tisch ging; da bestellte der Landgraf heimlich mit seinen Schreibern und Dienern, daß man von Stund an Boten zu Roß aussandte zu allen Grafen und Herren in Thüringen und ihnen meldete, daß sie zur Nacht mit wenig Leuten in der besten Rüstung und Geschmuck auf die Burg kämen. Das geschah. Frühmorgens, als der Tag anbrach, richtete Landgraf Ludwig das also an, daß ein jeder auf den Graben um die Burg trat, gewappnet und geschmuckt in Gold, Sammet, Seiden und den Wappenröcken, als wenn man zu streiten auszieht; und jeder Graf oder Edelmann hatte seinen Knecht vor ihm, der das Wappen trug, und seinen Knecht hinter ihm, der den Helm trug; so daß man deutlich jedes Wappen und Kleinod erkennen konnte. So standen nun alle Dienstmannen rings um den Graben, hielten bloße Schwerter und Äxte in Händen, und wo ein Mauerturm stehen sollte, da stand ein Freiherr oder Graf mit dem Banner. Als Ludwig alles dies stillschweigend bestellet hatte, ging er zu seinem Schwager und sagte, die Mauer, die er sich gestern berühmt hätte zu machen, stehe bereit und fertig. Da sprach Friedrich: »Ihr täuschet mich«, und segnete sich, wenn er es etwa mit der schwarzen Kunst zuwege gebracht haben möchte. Und als er auswendig zu dem Graben trat und soviel Schmuck und Pracht erblickte, sagte er: »Nun hab ich köstlicher, edler, teurer und besser Mauern zeit meines Lebens noch nicht gesehen; das will ich Gott und Euch bekennen, lieber Schwäher; habt immer Dank, daß Ihr mir solche gezeiget habt.«


Kommentar: Bange, Bl. 62, 63. Winkelmann, VI, S. 234. Rohte, 1685.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 552