Der quillende Brunnen
An einem Berge in
Franken quillet ein Brunnen, wobei ein vornehmes adliges Geschlecht sein
Stammhaus hat. Das ganze Jahr über hat er schönes, lauteres,
überflüssiges Wasser, das nicht eher aufhöret, als wenn
jemand aus demselbigen Geschlecht soll sterben. Alsdann vertrocknet er
sogar, daß man auch fast kein Zeichen oder Spur mehr findet, es
sei jemals ein Brunn daselbst gewesen. Als zur Zeit ein alter Herr des
gedachten adligen Stammes in fremden Landen tödlich niederlag und,
bereits achtzigjährig, seinen baldigen Tod mutmaßte, fertigte
er in seine Heimat einen Boten ab, der sich erkundigen sollte, ob der
Brunn vertrockne. Bei der Ankunft des Boten war das Wasser versiegt, allein
man gebot ihm ernstlich, es dem alten Herrn zu verschweigen, vielmehr
zu sagen: der Brunn befinde sich noch richtig und voll Wassers; damit
ihm keine traurigen Gedanken erweckt würden. Da lachte der Alte und
strafte sich selbst, daß er von dem Brunnen abergläubisch zu
wissen gesuchet, was im Wohlgefallen Gottes stände, schickte sich
zu einem seligen Abschied an. Plötzlich aber wurde es besser mit
seiner Krankheit, und nicht lange, so kam er dieses Lagers völlig
wieder auf. Damit der Brunnen nicht vergebens versiegte und ihm seine
seit langen Jahren eingetroffene Bedeutung bestünde, trug es sich
zu, daß des Geschlechts ein Junger von Adel, von einem untreuen
Pferde abgeworfen, gleich zu der nämlichen Zeit Todes verfuhr.
Kommentar: Happel:
Relat. curios., V, 43, aus Mich. Piccard: Orat. acad., 4.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 103.