Rebundus im Dom zu Lübeck
Wenn in alten Zeiten ein Domherr zu Lübeck
bald sterben sollte, so fand sich morgens unter seinem Stuhlkissen im
Chor eine weiße Rose, daher es Sitte war, daß jeder, wie er
anlangte, sein Kissen gleich umwendete, zu schauen, ob diese Grabesverkündigung
darunterliege. Es geschah, daß einer von den Domherrn, namens Rebundus,
eines Morgens diese Rose unter seinem Kissen fand, und weil sie seinen
Augen mehr ein schmerzlicher Dornstachel als eine Rose war, nahm er sie
behend weg und steckte sie unter das Stuhlkissen seines nächsten
Beisitzers, obgleich dieser schon darunter nachgesehen und nichts gefunden
hatte. Rebundus fragte darauf, ob er nicht sein Kissen umkehren wollte.
Der andere entgegnete, daß er es schon getan habe; aber Rebundus
sagte weiter: er habe wohl nicht recht zugeschaut und solle noch einmal
nachsehen, denn ihm bedünke, es habe etwas Weißes darunter
geschimmert, als er dahin geblickt. Hierauf wendete der Domherr sein Kissen
um und fand die Grabblume; doch sprach er zornig: das sei Betrug, denn
er habe gleich anfangs fleißig genug zugeschaut und unter seinem
Sitz keine Rose gefunden. Damit schob und stieß er sie dem Rebundus
wieder unter sein Kissen, dieser aber wollte sie nicht wieder sich aufdrängen
lassen, also daß sie einer dem andern zuwarf und ein Streit und
heftiges Gezänk zwischen ihnen entstand. Als sich das Kapitel ins
Mittel schlug und sie auseinanderbringen, Rebundus aber durchaus nicht
eingestehen wollte, daß er die Rose am ersten gehabt, sondern auf
seinem unwahrhaftigen Vorgeben beharrte, hub endlich der andere, aus verbitterter
Ungeduld, an zu wünschen: »Gott wolle geben, daß der
von uns beiden, welcher unrecht hat, statt der Rosen in Zukunft zum Zeichen
werde, und wann ein Domherr sterben soll, in seinem Grabe klopfen möge,
bis an den jüngsten Tag!« Rebundus, der diese Verwünschung
wie einen leeren Wind achtete, sprach frevelig dazu: »Amen! Es sei
also!«
Da nun Rebundus nicht lange darnach starb, hat es von dem an unter seinem Grabsteine, sooft eines Domherrn Ende sich nahte, entsetzlich geklopft, und es ist das Sprichwort entstanden: »Rebundus hat sich gerührt, es wird ein Domherr sterben!« Eigentlich ist es kein bloßes Klopfen, sondern es geschehen unter seinem sehr großen, langen und breiten Grabstein drei Schläge, die nicht viel gelinder krachen, als ob das Wetter einschlüge oder dreimal ein Kartaunenschuß geschähe. Beim dritten Schlag dringt über dem Gewölbe der Schall der Länge nach durch die ganze Kirche mit so starkem Krachen, daß man denken sollte, das Gewölbe würde ein- und die Kirche übern Haufen fallen. Es wird dann nicht bloß in der Kirche, sondern auch in den umstehenden Häusern vernehmlich gehört.
Einmal hat sich Rebundus an einem Sonntage zwischen neun und zehn Uhr mitten unter der Predigt geregt und so gewaltig angeschlagen, daß etliche Handwerksgesellen, welche eben auf dem Grabstein gestanden und die Predigt angehört, teils durch starke Erbebung des Steins, teils aus Schrecken nicht anders herabgeprellt wurden, als ob sie der Donner weggeschlagen hätte. Beim dritten entsetzlichen Schlag wollte jedermann zur Kirche hinausfliehen, in der Meinung, sie würde einstürzen; der Prediger aber ermunterte sich und rief der Gemeinde zu, dazubleiben und sich nicht zu fürchten; es wäre nur ein Teufelsgespenst, das den Gottesdienst stören wolle, das müsse man verachten und ihm im Glauben Trotz bieten. Nach etlichen Wochen ist des Dechants Sohn verblichen, denn Rebundus tobte auch, wenn eines Domherrn naher Verwandter bald zu Grabe kommen wird.
Kommentar: Ph. H. Friedlieb:
Medulla theologica. Erasm. Francisci Höll.
Proteus, 1057 - 1065, aus mündl. Sage.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 264