Die verschütteten Silbergruben
Die reichsten Silberbergwerke am Harz waren die schon seit langen Jahren
eingegangenen beiden Gruben der große Johann und der goldene Altar
(bei Andreasberg?). Davon geht folgende Sage: Vorzeiten, als die Gruben
noch bebaut wurden, war ein Steiger darübergesetzt, der hatte einmal,
als der Gewinn groß war, ein paar reiche Stufen beiseite gelegt,
um, wenn der Bau schlechter und ärmer sein würde, damit das
Fehlende zu ersetzen und immer gleichen Gewinn hervorzubringen. Was er
also in guter Absicht getan, das ward von andern, die es bemerkt hatten,
als ein Verbrechen angeklagt und er zum Tode verurteilt. Als er nun niederkniete
und ihm das Haupt sollte abgeschlagen werden, da beteuerte und beschwur
er nochmals seine Unschuld und sprach: »So gewiß bin ich unschuldig,
als mein Blut sich in Milch verwandeln und der Bau der Grube aufhören
wird; wann in dem gräflichen Haus, dem diese beiden Bergwerke zugehören,
ein Sohn geboren wird mit Glasaugen und mit Rehfüßen, und er
bleibt am Leben, so wird der Bau wieder beginnen, stirbt er aber nach
seiner Geburt, so bleiben sie auf ewig verschüttet.« Als der
Scharfrichter den Hieb getan und das Haupt herabfiel, da sprangen zwei
Milchströme statt des Bluts schneeweiß aus dem Rumpf in die
Höhe und bezeugten seine Unschuld. Auch die beiden Gruben gingen
alsbald ein. Nicht lange nachher ward ein junger Graf mit Glasaugen und
Rehfüßen geboren, aber er starb gleich nach der Geburt, und
die Silberbergwerke sind nicht wieder aufgetan, sondern bis auf diesen
heutigen Tag verschüttet.
Kommentar: Mündlich
am Harz.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 97