DER GESCHUNDENE STIER
Wo jetzt Rentsch liegt, war einst eine schöne und reiche Stadt. Rebe an Rebe wuchs bis weit hinauf auf den Rittner Berg, und alles war voll überfluß. Doch ob ihres Glückes und Reichtums wurden die Einwohner übermütig und schreckten bald vor keinem Frevel mehr zurück.
Und so kamen sie einmal gar auf den Gedanken, einem Stier bei lebendigem Leibe die Haut abzuziehen und ihn so zu braten. Gedacht, getan! Beim Mair zu Vals war es, andere sagen: beim Bauer auf'm Hof. Das gepeinigte Tier brüllte vor Schmerz, daß es ein Jammer war und steinerne Herzen hätte rühren können. Nicht aber die alten Rentschner, denn die hatten die größte Freude daran und hüpften vergnügt um das Feuer herum, wo der Stier dann gebraten werden sollte.
Doch da umwölbte sich plötzlich der Himmel und ein so furchtbares Wetter brach herein, daß Stein und Erde vom nahen Berg losbrachen und die ganze Stadt samt ihren sündhaften Bewohnern überschütteten!
An ihrer Stelle entstand später ein christliches Dorf, und man baute
dem W. Laurentius zu Ehren eine Kirche, und so heißt der Ort heute
Rentsch. Im großen Ziggl aber sieht man noch den Turmknopf von der
untergegangenen Stadt Alt-Rentsch.
Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 628, S. 355