DER WURM AUF NIBENAL
Die Leute klagten häufig, wie schwer ein Auskommen mit den Würmern und Schlangen sei; allein, bei Licht betrachtet, scheint die Sache so arg nicht und die Furcht der Leute in den meisten Fällen übertrieben, denn gar oft hat es sich zugetragen, daß die Würmlein, die bei Nacht mitunter leuchten, den Menschen statt einer Laterne auf den Weg gezündet und daß sie ihrer Zauberkraft, womit sie ausgerüstet sind, zu Nutz und Frommen gutherziger Leute sich bedient haben.
So ist es auch einer Kaserin auf Nibenal, der Bergwiese in Lüsen, ergangen. Der kam, wenn sie heimtrieb, eine Schlange vors Haus, und die gutherzige Dirn setzte ihr stets ein Schüsselchen warmer Kuhmilch vor, die sie behaglich trank. Der Wurm wurde alsbald zutraulich und setzte sich abends bei der Kaserin zu Tisch. Sie litt das Tier, und siehe! Der Segen kam ins Haus und die Dirn brachte Erkleckliches vor sich.
Zuletzt schlug der Wurm gar in der Schupfe seinen Wohnsitz auf. Da kam
aber just einmal zu unrechter Zeit der Knecht den Berg herauf, sah die
Schlange beim Nachtmahl, faßte die Schüssel samt der Milch
und warf sie dem Wurm an den Kopf. Der ringelte sich zornig von dannen,
aber mit ihm zog auch der Segen aus dem Haus, und das Kasern trug bei
weitem nicht mehr soviel ein als vorher.
Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 157 f.