DER STARKE REIFER VON MELAUN
Vor alters hatte sich ein fürchterliches Ungetüm, das nach der Meinung einiger ein scheußlicher Drache, nach andern ein greulicher Wurm oder gar der Teufel selber war, in den "wälschen Köfeln" am Peitler eingenistet und trug Menschen und Tiere fort, sobald sie in seine Nähe kamen. Durch seinen giftigen Hauch erstarb alles Pflanzenleben an den Bergeshalden weit und breit. Es dehnte nach und nach seine Raubzüge über Gunggan hinaus und lagerte endlich sogar zur Mahdzeit nicht selten beim Brunnen auf Schatzwallin, einer Almwiese hinter Afers, wo die Mähder ihr Wasser holen mußten. Schon mancher Hirte und manche Almdirn hatten da ihr Leben eingebüßt, wenn sie zum Wasser gekommen waren, und auf den Freienbühel zu steigen, wagte aus den welschen Orten hinter dem Peitler keiner mehr.
Dazumal lebte in Melaun bei Brixen ein alter Reifer, der übermenschliche Leibesstärke besaß. In Brixen brachten die Metzger einen über die Maßen starken Stier nicht weiter; der Reifer lachte sie aus und meinte, den wolle er allein weitertragen. "Wenn du ihn erträgst", sagten die Metzger, "soll er dir gehören." Der Reifer war's zufrieden, lud den Stier auf seine Schultern und einen Salzsack oben auf, denn das Salz, sagte er, gehöre den Stier einzusalzen. So trug er zum Erstaunen der Metzger Stier und Salz auf seinen Reiferhof nach Melaun.
Prüfend besah er ein anderesmal auf dem Kornplatz zu Brixen einen Bauern, der sich keuchend mit einem Getreidesack schleppte. "Solcher trage ich zehn", spottete der Reifer. "Dann gehören alle zehn dir!" versicherte der Bauer. "Es gilt!" rief der Reifer. So lud der Starke seine zehn Getreidesäcke auf und trabte davon und dem Berge zu.
Der Bauer wollte sehen, ob er die Säcke auch wirklich hinauftrage,
und ging ihm nach. Auf halber Höhe sah der Reifer einen Nußbaum
und einen Pflug am Wege. Er sagte: "Heut' bring' ich meinen Kindern
Nüsse mit" - hob den Pflug, ohne die Säcke abzuladen, warf
ihn mit der Rechten in die Baumkrone, schlug eine große Zahl von
Nüssen herunter, bückte sich und sammelte sie auf, wieder, ohne
die Säcke abzuladen. Da graute dem Bauern ob der unheimlichen Kraft
des Reifers, und er lief den Berg hinab. Der Reifer aber trug Getreide
und Nüsse auf seinen Hof. Solcher Stücklein wissen die Berger
noch mehr von ihm, und im ganzen Lande redete man von seiner Stärke.
Diesem gelang es nun, des Untieres in den wälschen Köfeln Herr
zu werden. Er lockte den Drachen aus seinem Loche, schleuderte einen gewaltigen
Felsblock darauf und zermalmte ihn. Jetzt wuchsen die Blumen und Kräutlein
wieder, das Glöcklein von Freienbühel läutete aufs neue
ins Tal hernieder, und Weg und Steig auf die Almen waren wieder sicher.
Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 151