DIE SALIGEN IN LÜSEN
Einst hielten sich auch in Lüsen die Saligen Fräulein auf,
und in fast jedem Hause wohnte ein solches seltsames Wesen. Das war noch
eine glückliche Zeit - denn überall, wo eine Salige hauste,
war Segen und Überfluß.
Einmal ging ein Weiblein an einem Haus, vor dem eben eine Salige saß
und die frischgebackenen Brotlaibe zählte, vorüber und bat um
einen Laib. Die Salige gab dem Weiblein gern einen Brotlaib, setzte aber
hinzu: "Frage nie nach dem Ende!"
Das Weiblein hielt sich an diese geheimnivolle Mahnung und hatte zeit seines Lebens immer Brot. Denn der Laib wurde niemals kleiner, mochte es herabschneiden, wieviel es wollte. Als es starb und die Tochter den Brotlaib erbte, sagte diese einmal unwirsch: "ja hat es denn mit diesem alten Wecken überhaupt nie ein Ende?"
Da war der Zauber vorbei, und das Brot nahm ab und war noch am gleichen
Abend aufgebraucht wie ein gewöhnlicher Laib. Da hatte die Tochter
nichts mehr zu essen und mußte auch betteln gehen, wie weiland ihre
Mutter.
Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol. Innsbruck 1859. S. 25 f.