DER BLAUE STEIN AUF DER ALPE SENNES

Vor vielen Jahren kam ein Bettelweib nach Enneberg mit einem halbgewachsenen Buben, den sie beim Färbermeister in St. Vigil zurückließ, daß er etwas Rechtes lerne. Denn der Meister brauchte gerade einen Handbuben. Der Knabe blieb auch da bei den Färbersleuten, zeigte sich anstellig bei der Arbeit und wuchs so nach und nach in des Meisters Familie hinein, als wäre er nie fremder Leute Kind gewesen. Und aus dem Lotterbüblein wurde mit den Jahren ein ehrsamer Junggeselle, der zeitlebens im Hause verblieb und als ein eigenes betrachtet wurde.

Als er noch Walkbube war, kam er eines Tages auf die Sennesalm und sah dort einen Felsen, der ihm wegen seiner schönen blauen Farbe sehr gefiel. Er brach ein Stück davon los und steckte es ein. Daheim zeigte er es seinem Meister, und der war nicht wenig erstaunt darüber, daß es auf der Sennesalm droben Indigosteine gebe. Denn er hatte früher davon nie etwas gesehen oder gehört. Er gedachte den Stein für sein Gewerbe nutzbar zu machen und fragte den jungen, ob er sich die Stelle gemerkt habe. "ja", sagte dieser, "die Stelle weiß ich ganz gut." Also stiegen sie beide auf die Alm hinauf, fanden aber keinen blauen Stein mehr an der Stelle, sondern lauter weiße Kalksteine. Man hat eben sonst nie einen andern Stein oben gesehen.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 651