WIE DIE VON ST. MARTIN ZU EINEM HL. LEIB GEKOMMEN SIND
Hansel Cazzùla aus St. Martin machte einmal eine Pilgerreise nach Rom. Nachdem er in den Kirchen seine verschiedenen Pilgerandachten verrichtet und dabei gesehen hatte, wie viele hl. Leiber da in Rom vorhanden waren, gedachte er, einen solchen hl. Leib mit nach Hause zu bringen, und zwar für seine Heimatkirche zu St. Martin, die über keinen solchen hl. Leib verfügte.
So begab er sich denn - wie er später erzählte - zum "Office deles sacres Reliquies" und bat dort in einem schrecklichen Kauderwelsch, aber mit der frömmsten und biedersten Miene der Welt um einen solchen hl. Leib. Die Kardinäle wußten zuerst nicht, was sie von diesem Manne und seiner ungewöhnlichen Bitte halten sollten und konnten kaum das Lachen verhalten. "Ich gebe nicht nach", dachte Hansel Cazzùla bei sich und machte eine wenn möglich noch frömmere Miene. Die einen waren dafür, dem Manne einen hl. Leib für seine Heimatkirche zu verehren, wieder andere dagegen. Endlich sprach der "Capo del Office" zu den anderen Würdenträgern: "Seht ihr nicht, daß dieser Mann ein Heiliger sein muß? Wir wollen ihm deshalb einen hl. Leib geben!"
Eh, eh! dachte Hansel Cazzùla bei sich und konnte schier das Lachen
nicht verbeißen, als ihn der "Capo del Office" als einen
"Heiligen" bezeichnete. "Fragt einmal den Wirt von St.
Martin, was ich für ein Heiliger bin", dachte Hansel weiter,
verbiß aber standhaft das Lachen. Endlich gab man ihm den gewünschten
hl. Leib - und so sind die von St. Martin in Thurn zum Leib des hl. Germanus
gekommen!
Quelle: Alton, Giovanni. Proverbi, tradizioni ed aneddoti delle valli ladine orientali, con versione italiana. Innsbruck 1881. S. 97 f.