DER SALVANG MIT DEM ROTEN RÖCKLEIN
Im Gadertal sind die Schafställe wie anderswo oben in der Nähe der Wälder. Da haben nun die Waldmännlein, die Salvangs, die da und dort noch immer den Wald bewohnen, ihre Nachbarn, die gutmütigen Schäflein, vor allen andern Haustieren am liebsten und pflegen und hüten sie, als wären es ihre Kindlein.
In Abtei oben hauste im Wald ein solch kleines Männlein, das vor lauter Liebe zu den Schafen nicht wußte, was es den lieben Tieren nur Gutes antun sollte. Die Leute brauchten gar keinen Schafhirten anzustellen, denn das Männlein war immer um die Herde herum, führte sie auf die besten Weideplätze und streichelte und liebkoste die Tiere und ließ in seiner Sorgfalt keinen Augenblick nach. Selbst in der Nacht hatte es oft Langweile, weil die Schafe im Stall waren, und es ließ die Herde heraus und hütete sie im Mondschein. Die Schafe gediehen aber auch unter seiner Pflege, daß es eine Freude war, und wurden dick und rund! Da taten sich endlich einmal die Bauern, denen die Schafe gehörten, zusammen und ratschlagten, wie sie dem Männlein aufs passendste lohnen könnten. Und weil sie gesehen hatten, daß es ein altes und fadenscheiniges Röcklein anhatte, welches für den Winter nimmer wohl zu brauchen war, ließen sie ihm ein neues machen, von schöner roter Farbe, auf daß seine Freude um so größer wäre. Das Röcklein hängten sie, als es fertig war, an die Türe des obersten Schafstalles und legten sich in einen Hinterhalt, um zu sehen, wie es sich dazu anstelle.
Wie das Männlein desselben Abends nun das Ding auf der Stalltür
antraf, probierte es sich das Röcklein an, sprang wie außer
sich herum und hatte eine gyroße Freude. Aber auf einmal stand es
still, zog das Röcklein wieder aus und hob an, bitterlich zu weinen
und zu klagen, daß das Röcklein rot sei und nicht schwarz wie
seine Schäflein. Unter lautem jammern ging es in den Wald hinein
und ließ sich nie wieder sehen.
Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 615