DIE WEIßE SCHLANGE IN ENNEBERG

Vorzeiten lebte in Enneberg ein berühmter Schlangenbeschwörer, der die Gewalt besaß, alle Schlangen in weitem Umkreis auf einen bestimmten Platz hin zu bannen.

Da gab es nun auf der Alm so viele Schlangen, daß die Hirten keinen Rat mehr wußten. Wenn das Vieh nach dem Fressen sich lagerte, krochen diese Tiere heran und unter die Kühe hinein, um sich zu wärmen. Rührte sich eines der widerkäuenden Rinder, dann wurde es von den giftigen Würmern gebissen, daß es draufging. Auch gaben die Kühe immer weniger Milch, weil ihnen die Schlangen aus den Eutern soffen.

In dieser Not riefen die Bauern den Schlangenmann zu Hilfe und versprachen ihm reichlichen Lohn, wenn er das Ungeziefer vertilge. Der Zauberer kam auf die Alm, machte ein großes Feuer und bannte durch seine geheimnisvollen Sprüche die Würmer auf den Platz her und ins Feuer hinein. Von allen Seiten kam es gekrochen, und unter unheimlichem Gezische schossen die Schlangen ins Feuer und verbrannten allesamt.

Zuletzt, als keine mehr kam, tat der Zauberer einen lauten Pfiff, der oben vom höchsten Teil der Alm her in schauerlich gellendem Tone erwidert wurde. Der Mann wurde totenbleich vor Schrecken und rief: "Das ist die weiße Schlange, jetzt bin ich verloren!" Und eine weiße Schlange ringelte sich alsbald heran, mit einem goldenen Krönlein auf dem Kopfe. Sie stürzte auf den Schlangenmann los, der aber sprang vor Entsetzen auf den Scheiterhaufen, wo er elendiglich gebraten wurde. Aber auch der Silberwurm mußte ins Feuer, zuvor warf er jedoch sein zierliches Krönlein ab. Ein Bäuerlein, das da dem Schlangenzauber zugesehen hatte, nahm die Krone auf und ging damit heim. Seitdem ist die Alm von dem lästigen Gewürm befreit.

Das Bäuerlein, das die Krone zu sich gesteckt hatte, tat das zierliche Ding daheim in seine Geldkatze und trug es beständig fort mit sich herum. Und es hatte immer Geld in der Katze, daß der Beutel gleich schwer blieb, es mochte herausnehmen, soviel es wollte, denn das Kleinod besaß die Kraft, das Geld zu mehren.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 649