DER WUNDERDOKTOR IN ENNEBERG

Vor 30 und mehr Jahren lebte in Enneberg ein Wunderdoktor, ein überaus kurioses Männlein, das seine Arzneikunst in geheimnisvolles Dunkel zu hüllen pflegte. Worte gebrauchte das Männlein nicht viel, es half sich dafür um so besser mit allerlei gespenstigen Zeichen. Die Leute hatten großes Vertrauen auf den sonderbaren Alten und riefen ihn gern zu Hilfe, denn er übte seine Kunst nicht bloß an den kranken Bauersleuten, sondern dokterte auch im Stalle.

Einst war der Bauer Trebo in Enneberg schwer erkrankt. Alles Medizinieren half nichts, und da gleichzeitig auch im Stall Unglück über Unglück erfolgte, mußte die Sache nicht mit rechten Dingen zugehen, und die Bäurin wandte sich gegen den Willen des Bauers an den Wundermann. Dieser erklärte, es müsse ihn ein Kind des Kranken um 10 Uhr nachts abholen, denn er dürfe vor allem andern nie allein den Weg zum Kranken machen; um 12 Uhr müsse dann die Arbeit beginnen.

Also kam um 10 Uhr in der Nacht der älteste Sohn des Bauern in die Wohnung des Männleins und holte es ab. Sie hatten einen Weg von zwei Stunden zu machen und trafen richtig punkt zwölfe ein. Das Männlein fragte die Bäurin, wie spät es sei. Auf ihre Antwort, daß es nun augenblicklich zwölfe schlagen werde, sagte er erschrocken: "Höchste Zeit!" Darauf befahl er der Bäurin, alles genau zu befolgen, was er ihr auftrage; sie werde es nicht zu bereuen haben.

Nun mußte sie auf dem Herd ein großes Feuer anmachen und zwei Sicheln hereinbringen. Das Männlein machte die Sicheln im Feuer glühend und hielt sie sodann übereinander gekreuzt so lange in die Höhe, bis das Eisen wieder kalt war. Dabei murmelte es geheimnisvoll. Hierauf zog es eine Schweinsblase aus einem Sack, hieß die Bäurin frische, rahmige Milch herbeischaffen und füllte die Blase mit Milch, gab auch etliches Wurzelwerk dazu, das er mitgebracht hatte, und band die Blase fest zu. So gefüllt, hängte er sie in den Kamin und gebot der Bäurin, sie nicht eher wieder herabzunehmen, als bis sie ganz zusammengeschrumpft wäre. Damit, sagte das Männlein, würde der böse Geist der Krankheit aus dem Hause gebannt.

Jetzt handelte es sich noch darum, auch den Stall zu entzaubern. Die Bäurin fing sich an zu fürchten und bereute es schon, den unheimlichen Menschen gerufen zu haben. Sie zögerte daher. Er aber machte große Augen und sagte unwirsch: "Willst du mich und dich ins Verderben bringen? Die Arbeit ist nur halb; sie muß ganz getan werden, sonst sind wir beide verloren." Damit zog er die Bäurin zum Stall nach. Dort nahm er einen Bohrer aus der Tasche und bohrte, immerfort sein Abrakadabra und Hokuspokus murmelnd, drei Löcher in die Schwelle der Stalltür, schüttete in jedes der Löcher ein stark riechendes Pulver und verstöpselte Holz vom Weißhaselstrauch. Darauf ging er wieder von dannen, sie mit die Bäurin des unausbleiblichen Erfolges versichernd. Geholfen hat der Zauber allerdings nichts, denn ein paar Tage darauf starb der Bauer, und etliche Wochen später fanden sie im Stall die schönste Milchkuh verendet auf dem Boden liegen.

Dieser Wunderdoktor hatte seine Kunst von seinem Vater ererbt, der allgemein für einen Zauberer gehalten wurde. Der erstere ist vor ungefähr 25 Jahren verstorben, aber nicht in Enneberg, sondern bei Montal auf dem Berge.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 670