DAS BEISTANDMANNDL
Ganz hinten im Valser Tal liegt die Alm Labiseben. Dort müssen die Hirten gar wohl auf das Vieh achthaben, damit es ihnen nicht zu weit vorgehe und so in Gefahr komme, über die Beistandwand abzustürzen.
Als nun einst bei schlechtem Wetter alles Vieh bei der Hütte blieb und nicht weggehen wollte, ärgerte das den Hirten derart, daß er es in seinem maßlosen Zorn absichtlich zum Absturz bringen wollte, indem er es gegen die Beistandwand hintrieb. Wirklich erreichte er damit seinen Zweck - ein Stück nach dem andern "walgte" ab und blieb mit zerschmetterten Gliedern unten im Valser Bach liegen!
Kein einziges Tier war dem Absturz entgangen, und so groß war die Anzahl der auf diese Weise zugrunde gegangenen Rinder, daß der Bach, vom Blut der abgestürzten Tiere gefärbt, eine Zeitlang ganz rot daherfloß. Aber die schreckliche Untat blieb nicht ungesühnt: Nach seinem Tod fand der ungetreue Hirte keine Ruhe, er muß als Geist am Ort seines Verbrechens umgehen, und besonders bei schlechtem Wetter hört man oft seine mahnende Stimme: "Hirten, tut ein! Hirten, tut ein!"
Die Hirten kennen diesen Warnungsruf des "Beistandmanndls",
wie sie den Geist nennen, und befolgen ihn auch, indem sie das Vieh in
die Ställe treiben.
Quelle: Karl Meusburger, Die Sage vom Beistandmanndl in: Der Schlern, Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde, 1924, S. 293