DER KIENBERGER RIESE

Vor alten Zeiten hauste auf dem Kienberg bei Ehrenburg im Pustertal ein grimmiger Riese. Die Leute sagen, er habe die Menschen gar nicht leiden können und hätte ihnen überall Böses zugefügt. In seinem Zorn darüber, daß dieses Zwerggeschlecht der Menschen überhandnahm, schleuderte er so viele Steine ins Marbachtal zwischen Ehrenburg und Montal, daß niemand mehr vorüberkonnte und die Gader aus Enneberg statt durch das Marbachtal über Runggen und Pflaurenz der Rienz zufließen mußte. Er war über und über mit Moos bewachsen und so alt, daß er den Kreuzkofel hinten in Abtei so klein wie ein Kospenbloch (Holzstück, woraus die Bauernholzschuhe - Kospen - gemacht werden) gedachte. In Marbach wußte er neunmal Wiese und neunmal Wald. Nach seiner bösen Tat grub er sich auf dem Kienberg ein so großes Loch, daß es von einem Ende des Berges bis zum andern reichte, und legte sich hinein. Darauf kam ein seltsames fremdes Männlein durchs Gadertal heraus und warf das Loch über und über mit Erde und Steinen zu. Seitdem kommt kein Wasser mehr aus dem Kienberg, und das köstliche Kreßbrünnlein, das vorzeiten aus dem Berge oben hervorgesprudelt ist, quillt jetzt im Wald unten beim Rainer in Runggen aus dem Boden.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 603 f.