DAS SONNENBURGER WEIBELE

Vor Jahren ging im Schloß Sonnenburg bei St. Lorenzen ein gespenstiges Weiblein um. Da geschah es, daß einmal spätabends ein Wanderer bei Sturm und Unwetter zum Schlosse kam und da ein Obdach zu finden hoffte. Vor der Burg saß aber das Weiblein und redete den Wanderer an. "Schon lang", sprach es, "bin ich hier verzaubert. Ich bitte dich, daß du mich erlöst; ich will dich dafür reich und glücklich machen." Der Mann entgegnete: "Ich will dich gern erlösen; sag nur, was ich tun soll!" Und das Weiblein sagte: "Du mußt diese Nacht im großen Saale bleiben und darfst keinen Laut von dir geben, welcher Spuk auch immer kommen mag."

Schloss Sonnenburg, Pustertal, Südtirol © Dietrich Feil

Schloss Sonnenburg, Pustertal, Südtirol
© Dr. Dietrich Feil, April 2004

Der Wanderer begab sich nun in den Saal hinauf und blieb dort, während es draußen fortwetterte. Als es Mitternacht war, schritten allerlei Gespenster durch den Saal, Nonnen mit goldenen Ketten um den Hals und geharnischte Ritter. Der Mann fürchtete sich nicht und gab keinen Laut von sich. Zuletzt kam aber ein höllischer Spuk: Zwei wütende Gespenster trieben seine arme Mutter, die vor ein paar Jahren verstorben war, vor sich her und wollten sie erstechen! Da sprang er zornig auf und schrie: "Halt, ihr Kerle, keinen Schritt weiter, sonst drehe ich euch den Kragen um!" In diesem Augenblick tat es im Saal einen furchtbaren Krach, und der Spuk verschwand. Darauf kam das Weiblein gar traurig herein und sagte: "O weh, ich hätte durch dich erlöst werden können! Nun muß ich wieder hundert Jahre büßen." Noch immer geht das Weiblein klagend und stöhnend im Schlosse um und wartet auf Erlösung.

Schloss Sonnenburg, Pustertal, Südtirol © Dietrich Feil

Schloss Sonnenburg, Pustertal, Südtirol
© Dr. Dietrich Feil, April 2004

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 584