DER WINTERSENNER AUF DER STALLERALM

Vor alters bestand auf der Stalleralm am Weg vom Antholzer ins Defereggen-Tal eine merkwürdige Wirtschaft, die das ganze Jahr hindurch andauerte. Sobald nämlich der Sommersenner mit seinen Herden von der Alm abgezogen war, bezog der Wintersenner dieselbe mit seinem kohlschwarzen Hornvieh. Wenn dann der Mai seinen wärmeren Lufthauch auch da oben über die Alm ausgehen ließ und Gras und Kraut zu wachsen begannen, dann zog wieder der Wintersenner mit seiner Herde fort. Dieser Wintersenner war aber niemand anderer als der Senner des verstorbenen ehemaligen Besitzers der Alm. Seinen Winterdienst hatte er auf folgende Weise erhalten:

Er war noch Sommersenner und sollte nach Schluß der Almzeit mit dem Vieh zu Tal fahren. Weil er aber nachlässig und unordentlich war und alles auf den letzten Augenblick hinausschob, vergaß er in der großen Eile der Zurüstung zur Heimfahrt die Tür der Almhütte zu verschließen. Schon waren sie auf halbem Weg bergab, da fiel ihm erst ein, daß die Tür oben offenstehe. Er überließ das Vieh den Hütbuben und kehrte auf die Alm zurück, die Tür zu sperren. Aber es war schon zu spät, und die Alm wimmelte von kohlschwarzen Rindern. Der Senner kam nicht wieder zurück; er mußte oben bleiben und als Wintersenner die Wirtschaft übernehmen. Er führte sie mehrere Jahre, und immer, sobald das letzte Stück Vieh des rechten Senners zu Tal fuhr, brüllte auch schon die erste schwarze Kuh des Wintersenners oben herüber.

Einmal trug es sich zu, daß der Wintersenner dem Sommersenner beim Abzug des letzteren noch auf der Alm begegnete. Nach üblichem Sennergruß sagte der Wintersenner zum andern, es würde alsbald sein schwarzer Stier mit dem roten des Sommersenners aufeinandergeraten und ins Stoßen kommen; der rote werde dabei so ermüden, daß er die Zunge bis auf den Boden herabhängen lasse, und wäre sicher verloren; da möge ihm der Sommersenner zu Hilfe kommen und mit seinem Haselstock auf den schwarzen Stier einhauen, sodann werde es der rote dem schwarzen abgewinnen.

Wie nun der Sommersenner abzog, gerieten wirklich die beiden Stiere hart aneinander, und der rote behauptete mit Hilfe seines Senners das Feld. Der schwarze Stier mußte weichen und "billte", daß die Berge zitterten. Aber der Wintersenner war dadurch erlöst und konnte mit der Sommerherde heimfahren.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 598 f.