DIE FRAUENLINDE AUF SCHLOß WANGEN
Vor vielen Jahren lebten auf Schloß Wangen ein Ritter, namens Adalbert, und seine Frau Adelheid. Als man nun mit dem Kreuz ins Heilige Land zog, ging auch Ritter Adalbert mit und blieb seither verschwunden. Seine junge und schöne Frau aber wartete und wartete, Jahre vergingen und ihr Gemahl wollte immer noch nicht kommen.
Da saß sie einst im tiefsten Herzeleid am Fenster und blickte hinaus in die Ferne. Und es entrang sich ihrer Brust ein Seufzer: "Ach Gott, es wäre besser, wenn ich in tiefem Schlafe liegen könnte bis mein Herr kommt!"
Und siehe, da kommt ein Vogel durchs Fenster geflogen, wirft ein Blättchen auf die Ritterfrau - und sogleich schläft diese ein. Und mit ihr schlief auch das Hofgesinde ein, die Köchin in der Küche, die gerade einen Strudelteig anmachte, die Kammerzofe mit ihrem Silberhäubchen, die Knechte im Stall und am Tor der alte Wächter. Auch Hund und Katze schliefen auf der Stelle ein, wo sie gerade lagen.
Jahre vergingen so, kein Mensch rührte sich im Schlosse und der alte Efeu wuchs und wuchs die Mauern hinauf, bis er oben am Turm zusammenschlug. Da kam einmal ein alter Mann mit eisgrauem Bart vor das Tor und pochte heftig an. Darüber erwachte der Wächter im Turm und blies ins Horn, auch die Köchin und die Knechte erwachten und Hund und Katze, und alle liefen und sprangen wieder ihrer Arbeit nach. Im Turmgemach hatte nun auch Frau Adelheid die Augen aufgeschlagen, stand auf und schritt die Stiege hinunter. An der letzten Steinstufe kam ihr der Mann mit dem eisgrauen Barte entgegen, blieb vor ihr stehen und rief: "O mein Weib, mein liebes Weib! Du kennst mich nimmer? ja, ich bin alt geworden und du bist jung geblieben! Ich wurde von den Türken gefangen, man hat mich zum Sklaven gemacht und mehrmals verkauft. dann gelang es mir nach langen Jahren zu entfliehen, ich mußte darauf die halbe Welt durchwandern und mein Leben gar zum Pfande geben, um dich wiederzufinden, meine treue Adelheid!"
Da fielen sich die Gatten in die Arme, aber auf einmal wurde es Frau Adelheid ganz kalt, und sie sank vor lauter Glück um und war tot. Der Schloßherr ließ sie nun im Schloßgarten begraben, und bald stieg aus ihrem Grabe ein Rosenstrauch empor und schlang sich von Tag zu Tag höher, bis er das Fenster zum Schlafgemach des Ritters Adalbert umgab und den köstlichsten Duft alle Morgen zu ihm sendete.
Aber Ritter Adalbert konnte ohne seine Frau Adelheid nicht mehr lange leben und eines Tages sank auch er hin und starb. Da begrub man ihn neben seiner Frau, und bald wuchs aus seinem Grab eine schöne Linde und wurde mächtiger und größer als alle anderen Bäume. Und der Rosenstrauch wand nun seine hundert und hundert Rosenblüten durch seine Baumkrone, daß es weithin leuchtete und duftete.
Quelle: Tschurtschenthaler, Paul: Berg- und Waldwege in Südtirol. 2. Auflage, Innsbruck 1947. S. 52 - 54