DER RITTER VON SCHLOß HAUENSTEIN

Auf Hauenstein wohnte zur Zeit der Kreuzzüge ein reicher Ritter. Begeistert für die heiligen Stätten in Palästina, zog er auch dorthin. Vor seiner Abreise versah er die Burg mit Lebensmitteln und verrammelte und verriegelte dann das Schloß, in welchem sich nur seine schöne junge Frau mit einer einzigen Dienerin befand. Eifersüchtig, wie er war, wollte er nicht haben, daß irgend jemand während seiner Abwesenheit - die höchstens ein Jahr dauern sollte - zu seiner jungen Gattin kommen könnte. An kein Eindringen von außen war zu denken und ebenso wenig an ein Entkommen von innen.

Die junge Frau mit der ersten Leibesfrucht unter dem Herzen trug frohgemut die Einsamkeit und genas nach einem Vierteljahr von einem herzigen Knäblein, das dem Vater ganz aus dem Gesicht geschnitten war. Im Genusse der ersten Mutterfreuden verlief der jungen Frau die Zeit schneller, als sie geglaubt hätte, und das Jahr war um, ohne daß der Ritter zurückgekehrt wäre. Der Nahrungsvorrat neigte sich seinem Ende zu, und mit Schrecken mußte die junge Frau samt ihrem Kinde und der Magd dem Hungertode entgegenbangen. Tag um Tag verrann, ohne daß der Ritter zurückkehrte, und die letzten Lebensmittel waren aufgezehrt. Als dann der Ritter endlich zurückkam und die Burg öffnen ließ, fand er die treue Magd tot im Burghof liegen, die Frau aber lehnte tot in einer Fensternische. Das Knäblein hatte sie noch an der Brust, aber auch es war verschmachtet und nicht mehr am Leben. Dieser Anblick zwang den Ritter zu Boden, so daß auch er starb und samt seinen Lieben in der Kastelruther Pfarrkirche bestattet wurde.

Quelle: Weber, P. Beda, Die Stadt Bozen und ihre Umgebungen, Bozen 1849. S. 420 f.