DAS TOTENGERIPPE VON HAUENSTEIN
Eine Stunde von Seis entfernt, steht auf einem riesigen, an den Bergabhang hingelehnten Felsblock die Ruine Hauenstein, einst der Sitz des Dichters und Sängers Oswald von Wolkenstein. Dann und wann hört man um Mitternacht aus dem Schloß Saitenspiel und Trauergesang von einer Jungfrau, die da oben verzaubert sein soll.
Eines Abends hüteten die Hirten noch spät um das Schloß
herum ihre Schafe. Sie saßen am Zugang zur Ruine und erzählten
sich allerlei Geschichten. Auf einmal war es ihnen, als ob jemand im Schlosse
ein Fenster öffnete. Sie schauten hinauf und sahen ein Licht durch
die Fensteröffnung schimmern und beim Lichte eine Frau, die ihr langes
Haar kämmte. Ihr Kopf war aber ein Totenkopf, und die Schäfer
wunderten sich, daß am selben so schönes Haar wuchs, und erschraken.
Und wie die Frau erst noch Steine und Sand auf die Hirten herabwarf, da
nahmen diese Reißaus und liefen entsetzt davon. Die Leute sagen,
daß dieses Totengerippe die Frau eines verbannten Ritters sei und
so lange im Schlosse umgehen müsse, bis ihr Gemahl zurückkehre.
Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 360