DER KALTERER SEE
1.

In jener Gegend, wo jetzt der Kalterer See ist, stand einst eine prächtige Stadt, deren Bewohner boshafte, schrecklichen Lastern ergebene Leute waren. Nur ein einziges Haus, etwas höher und abseits von der Stadt gelegen, war von einer frommen, aber blutarmen Familie bewohnt. Als einst Christus mit seinem Jünger Petrus die verschiedenen Länder bereiste, kam er auch in die Gegend dieser Stadt. Sie waren von der Reise müde, und es hungerte sie sehr; darum machte Christus halt im Häuschen jener frommen Familie und bat um etwas Essen. Der arme Hausvater hatte aber keinen Bissen im Hause, darum entschuldigte er sich und brachte einen Krug voll frischen Wassers, womit die beiden Fremden wenigstens den Durst löschen konnten. Petrus ging dann in die Stadt hinab, um dort zu bitten, mußte jedoch mit leeren Händen wieder umkehren, denn überall wies man ihm barsch die Türe. Als Christus seinen Jünger Petrus so mit leeren Händen und traurig kommen sah, ließ er sich von ihm seine Erlebnisse in der Stadt erzählen. Als er von dieser Unbarmherzigkeit hörte, nahm er entrüstet den Wasserkrug in die Hand und schüttete ihn durchs Fenster hinaus. In dem Augenblick strömte Wasser aus dem Erdboden hervor und überflutete die gottlose Stadt. Der fromme Bewohner jener armen Hütte konnte nun im fischreichen See fischen und wurde von da ein reicher Mann. Noch heutigen Tags steht das Haus an der Stelle, wo einst Christus geweint hat. Man nennt es "Klughammer."

2.

Im Hause, das man jetzt Klughammer nennt, wohnte einst ein reicher, aber unbarmherziger Bauer. Eine große Fläche fruchtbarer Getreidefelder und fettgrasiger Triften, eine Menge Pferde, Rind- und Kleinvieh nannte er sein Eigentum, dabei war er aber so geizig, daß er seinen Arbeitern nie ihren gebührenden Lohn gab. Eines Tages kam Christus in Gestalt eines alten Männleins zu ihm in die Stube und bat um etwas zu essen oder wenigstens um einen Trunk Wassers, um sich zu erfrischen. Der Bauer wies ihm die Türe mit den Worten: "Packe dich zum T . . . . ., zu essen gebe ich nichts, und Wasser hat mir Gott selbst nicht nach Bedarf genug gegönnt!" Das Männlein ging betrübt fort und weinte auf dem Wege. Die Tränen verwandelten sich in einen Strom, welcher die vielen Felder und Besitzungen des Gotteslästerers überflutete und ihn zu einem armen Manne machte. (Kaltern.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 639, S. 362