DER WILDE MANN IN MONTIGGL

Im Montiggler Wald stand auf einer Anhöhe eine halbzerfallene Hütte, welche von den Leuten gemieden wurde, weil es dort immer unheimlich war. Noch heute fällt es manchmal diesem oder jenem schwer, die Stelle bei Nacht zu passieren, und er schlägt gegen alles Ungeholde ein großmächtiges Kreuz.

Es erzählt aber die Sage, daß dort oben bei der Hütte vor alters ein Wilder Mann von ungeheurer Größe und Stärke gewohnt habe, den die Leute weit und breit bloß den Montiggler Wilden hießen. Wer sich bei Nacht in den Montiggler Wald wagte, der kam nimmer heraus. Ein altes Weiblein war in den Wald gegangen, um Reisig zu klauben. Bevor es aber das Mütterlein merkte, ging die Sonne unter, und die Nacht überraschte sie, ehe sie aus dem Walde war. Sie kehrte nicht mehr zurück. In der Nacht getraute sich niemand hinaus, als aber am anderen Morgen die Leute in den Wald gingen, die Alte zu suchen, fanden sie ihre Überreste auf dem Wildemannsbühel bei der Hütte des Ungetüms. Der Wilde hatte sie aufgefressen.

Eines Tages kam derselbe nach Schreckbichl und holte sich aus dem nächsten Bauernhofe ein Paar Ochsen, mit welchem er Steine auf seinen Hügel hinaufführte. Der Bauer war ihm nachgeschlichen und mußte sehen, wie der Grimmige auf seine öchslein losschlug, daß es zum Erbarmen war. Dazu schrie er: "Hü, hotü, hü!" Der Bauer wagte sich nicht an den Wilden und ging wieder heim. Am andern Morgen aber fand er die Ochsen wieder in seinem Stall; sie waren viel fetter und stärker geworden, so daß der Bauer, der ihre Arbeit am vorhergegangenen Tage ja beobachtet hatte, kaum seinen Augen traute. Sie schwitzten vor lauter Fett wie Ölkrüge.

Einmal gingen Leute in den Montiggler Wald, um Laub zu sammeln. Als sie an der Hütte des Wilden Mannes vorbeikamen, von dem man schon längere Zeit nichts mehr verspürt hatte, konnten sie ihrem Vorwitz nicht widerstehen und lugten durch die weit geöffnete Tür in die Hütte. Darin sahen sie eine Grube, und weil sie vom Wilden keine Spur bemerkten, wagten sie sich hinein und stiegen in das Loch hinab. Kaum waren sie alle unten, als die Grube sich plötzlich zu drehen anfing, daß den erschrockenen Insassen ordentlich schwindelte. Und die Wände des Loches waren nimmer wie vorher, sondern schimmerten von purlauterem Golde. Es gelang den Vorwitzigen, wieder heraufzusteigen; als sie aber oben waren und nach den goldenen Wänden sehen wollten, war das Gold wieder verschwunden.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 480 f.