DIE ERLENE HEXE

Es gibt in Ulten verschiedene Plätze, an denen sich nach der Meinung des Volkes die Hexen versammeln. An einem solchen ereignete sich folgendes: Ein Bursche hatte ein Mädchen lieb, von dem er aber nicht recht wußte, ob es nicht zu den Hexen gehöre. Um aus dem Zweifel zu kommen, ging er eines Abends an einen solchen Platz, wo die Hexen zusammenzukommen pflegten. Er setzte sich auf einen Baum und wartete ab, was da kommen werde. Auf einmal erschienen die Hexen, und unter ihnen war auch die Geliebte des Burschen. Die anderen fingen an, über diese Gericht zu halten, weil sie etwas (was, wußte der Erzähler nicht) erstellt hatte. Das Urteil lautete dahin, daß die Schuldige sollte zerrissen werden. Sogleich fielen alle über sie her, zerrissen sie in Stücke und warfen die Brocken in die Höhe. Der Bursche auf dem Baume erwischte eine Rippe und behielt sie bei sich. Bevor die Hexen abzogen, suchten sie die Stücke zusammen und formten daraus den alten Körper. Nur eine Rippe konnten sie nicht finden und setzten dafür eine andere aus Erlholz ein. Die Hexe war wieder lebendig, aber die löbliche Gesellschaft redete ab, daß sie des Todes sein werde, wenn sie jemand "die örlene Hexe" nennen würde.

Als der Bursche am andern Tag seiner Geliebten begegnete, war der erste Gruß "örlene Hexe". Kaum aber hatte sie diese Worte gehört, so stürzte sie tot zusammen. (Ulten.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 804, S. 469