KURZGNAD
Ein Jäger ging einmal auf den Sonnenberg jagen und kam, als es Nacht
wurde, in eine Alpe. Er bemerkte, daß in der Almhütte Feuer
brannte, und schaute von fern hinein. Da sah er einige großmächtige
Kerle beim Feuer, welche Fleisch sotten. Sie hatten ein ganzes Rind, schnitten
Fett und Fleisch heraus, steckten dann die geschundenen Beine zusammen
und ließen das Vieh wieder laufen. Der Jäger wußte dabei
nicht recht, was er denken sollte, und die Verwunderung trieb ihn noch
näher zur Hütte. Als er ziemlich nahe gekommen war, schaute
er wieder hinein, erschrak aber dermaßen, daß er augenblicklich
umkehrte und davonlief. Denn aus der Hütte hatten ihn zwei Augen
angeglotzt, die nicht kleiner waren als zwei Glasscheiben. Wie er aber
den Berg herablief, da rannte hinter ihm her ein Loter, so groß
wie ein Heuschober, und schrie ein- über das anderemal: "Du
hast kurze Gnad, du hast kurze Gnad!" Seit dieser Zeit heißt
der Bühel, über den der Jäger herabgelaufen ist, "Kurzgnad."
(Ulten.)
Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 23, S. 15