DAS MAHL
Das Geigerjosele aus St. Gertraud in Ulten wurde einmal auf einem Gange übers Joch von der Nacht überfallen und mußte in einer leeren Almhütte übernachten. Er war eben im Begriffe einzuschlafen, als es plötzlich laut daherfuhr und Männer und Weiber in die Hütte kamen und eine Kuh mit sich trieben. Da wurde nun Feuer gemacht und unter allerlei Sprüchen schlitzten sie der lebendigen Kuh die Haut auf und schnitten dann Stücke Fleisch heraus, die gesotten und gebraten wurden. Auch das hungrige Josele wurde zum Schmause geladen, das sich den duftenden Braten herrlich schmecken ließ. Als alle satt waren, nähten sie der Kuh die Haut wieder zu und fuhren dann lärmend fort, wie sie gekommen waren.
Die Ortschaft St. Gertraud im hinteren Ultental,
Südtirol
© Berit
Mrugalska, 17. Mai 2005
Dem Ultner ging die Geschichte im Kopfe herum, und er konnte nicht mehr
schlafen. Frühmorgens kam er nach St. Gertraud, wo ihm sein Nachbar
bald klagte, daß ihm eine Kuh heute gar nicht gefalle. Es stellte
sich auch bald heraus, daß das arme Tier "das Schwinden"
habe. Josele wurde, weil er vom Vieh viel verstand, auch zu Rate gezogen
und fand, als er in den Stall kam, daß dies dieselbe Kuh sei, der
in der Almhütte das Fleisch herausgeschnitten wurde. Seitdem war
ihm nun klar, woher das Schwinden komme und warum das Vieh in einer Nacht
so schrecklich abmagern könne. Das Josele setzte auch bei, es sei
von den ihm unbekannten Leuten in der Almhütte gesagt worden, man
könne einem Rinde, ohne es zu töten, so viel Fleisch herausschneiden,
als man wolle, nur dürfe man kein Beinlein verrücken. (Ulten.)
Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 22, S. 14